Film und Architektur – Architektur als Chor

Film und Architektur, Foto: @ 2010 Martin Kreyssig

Architektur im Film darf ihrer Funktion nach in vier Kategorien unterteilt werden:
1. Architektur dient der Bewegungsdarstellung
2. Architektur dient der Proportion.
3. Architektur dient als topografisches Zeichen und Sozialisation.
4. Architektur dient der Fiktionalisierung.

Architektur dient der Bewegungsdarstellung

Architektur – und ich unterscheide nicht zwischen der Location, dem Studiobau und dem Rechner gestützten, virtuellen Dekor – Architektur wird als festes, unbewegliches Bestandteil der filmischen Erzählung eingesetzt. Wie ein Baum steht, so gründet die Architektur im Boden. Um sie herum herrscht Bewegung, in ihrem Innern beherbergt die Architektur Bewegung.
Film ist a priori Bewegung – technisch betrachtet: der bewegte Filmstreifen, Rollen, Räder, Riemen – inhaltlich grenzt er sich von der älteren Fotografie durch die Möglichkeit der Bewegungsdarstellung ab. Der Regie gilt es als Aufgabe die Bewegung von Menschen und Objekten – Auto, Eisenbahn, Schiff und Flugzeug – vor einem unbeweglichen Dekor zur Geltung zu bringen. Die Bewegung selber wird erst deutlich durch die sie umgebende Unbeweglichkeit. Film hat also Bewegung zum Thema, benötigt aber Unbeweglichkeit zur Referenz und Bedingung. Wäre im Film alles in Bewegung, könnte das Auge das Wichtige vom Unwichtigen nicht unterscheiden. Wichtig für den Film ist der bewegliche, bewegte Mensch und das bewegte Objekt, dem Menschen Untertan. Architektur ist somit ein dreidimensionales Objekt vor dem und in dem sich etwas bewegt. Architektur ist Herberge und Hintergrund filmischer Bewegungszeichen. Architektur dient dem Status quo. Architektur ist in Bezug auf die Bewegungsdarstellung gefrorene Zeit – ein Freeze, ein dreidimensionales Standbild, ein Dekor, eine Kulisse in der Leben stattfindet. Dieses Leben bewegt sich hinein und heraus aus der statischen Kulisse, die Bewegung nutzt das Unbewegliche zum Aufenthalt, zur Rast, zum Showdown, zu Liebe und Tod. Architektur im Film ist eine starre, unbewegliche Hülle für Aktionen und Agierende.
Die Bewegungsdarstellung kann aus ästhetischen Gründen verlangen die Architektur im Film unscharf, oder unterbelichtet oder in Bewegungsunschärfe abzubilden, um dem Betrachter eine bessere Fokussierung auf die Bewegung zu ermöglichen. In diesen Bewegungsphasen wird das Dekor verschliffen und kann bis zur grafischen Unkenntlichkeit zerdehnt werden – eine buntes Band. In diesen Phasenbildern löst sich der Baukörper auf und wird zum Vorhang, dessen Unschärfe der Schärfe des Objektes als Fond dient. Im Verschleifen des Dekors bei der Bewegungsdarstellung löst sich die Körperlichkeit der Herberge auf. Architektur dient jetzt lediglich als virtuelles Band mit dem das Subjekt der Betrachtung geschmückt, umgürtet wird. Hier in der Auflösung von Raum wird das Dekor zum Kleid im bekannten Sinn als dritte Haut.
Architektur im Film dient also der Bewegung als Gehäuse und Hintergrund, sie dient aber ebenso der Blickbegrenzung. Der Blick des Zuschauers auf das laufende Bild sucht beständig nach Halt. Gewohnt – aus Furcht – zuerst auf das Bewegliche zu schauen, betrachtet er im zweiten Schauen die Begrenzung, das Unbewegliche. In einer weiten Totale heftet sich der Blick an den einzigen Baum, im Monument Valley an die bekannten Felsenformationen, auf See an das einzige weisse Segel.
Im Nahbereich sucht das Auge Gesichter, Hände, tastet die menschlichen Gliedmassen ab, orientiert sich an der Mitte und am hellsten Punkt. Erst im Verlauf der Einstellung gerät der Blick an die Ränder des Bildfeldes, betrachtet das begrenzende Dekor, die Umfassung des Zentrums im Hintergrund. Architektur im Film ist das Nichtloch hinter den agierenden Subjekten / Objekten, sie bettet den Blick, führt und leitet ihn immer wieder zurück auf das Wesentliche der Darstellung in ihrer Mitte. Architektur im Film wirft den Blick des Betrachters wie ein Echo zurück auf den Gegenstand seiner Aufmerksamkeit: den Protagonisten. Das Dekor einer Stadt dient dem Blick als Behausung und Führung zurück zur Beweglichkeit.
Der Film benötigt die Architektur als Herberge für Aktion und Resonanzfläche der Aufmerksamkeit. Die von Formen, Farben und Lichtintensität gereizten Zellen wandern über das Dekor und ruhen sich aus.
Architektur entbirgt hier ihre sozusagen akustische Kraft des Dekors, die der Film visuell nutzt. Architektur im Film wird so ausgesucht und gewählt, dass sie die ideale Umgebung, das perfekte Set zur Bewegung darstellt und den Blicken die richtige Resonanzfläche als visuelles Echo bietet.

Architektur dient der Proportion

Architektur im Film liefert Proportion. Ob ich eine Totale oder eine Naheinstellung wähle, im technischen Bild existieren immer nur Verhältnisse zwischen flachen, zweidimensionalen Körpern – Kreise, Quadrate und Rechtecke –, denen der Betrachter anhand von Grössenvergleich und Referenzpunkten räumliche Eigenschaften zumisst. Eine Türklinke, ein Türrahmen, ein Waschbecken, ein Flur, ein Fensterbrett oder Treppenstufen liefern Anhaltspunkte für Grössenverhältnisse und –vergleiche in Bezug auf die menschliche Proportion. Die stiftende Dominante ist der erwachsene Mensch, dessen Erfahrungen auch alle räumlichen Entscheidungen bestimmt. Als Spiegel realer Erfahrungen stiftet die Architektur im Film Massstäblichkeit, die filmische Darstellung per se benötigt. Weshalb?
Zum einen entsteht in der Erfahrung von Wirklichkeit dreidimensionales Sehen aus der binokularen Struktur beider Augen und ihres räumlichen Abstandes zueinander. Dem gegenüber steht die Einäugigkeit der filmischen Apparaturen. Der Film operiert somit immer mit der Fiktionalisierung von Raum, Raum ist per definitionem virtuell.
Zum anderen wird die Wirklichkeit im Abbild der Wirklichkeit auf ein 352 Quadratmillimeter grosses Feld reduziert (bei 35 mm Film = 22 x 16 mm), um anschliessend extrem vergrössert zu werden. Dieser Atem, diese technische Perspektive verlangt nach Halt und bekannten Parametern, an denen sich Erfahrung orientieren kann. Das Gehirn sucht Begründung und Vergleich, es verbraucht extrem viel Aufmerksamkeit = Aufnahmekapazität falls diese Suche nicht erfolgreich ist und Disproportionalität gewünscht ist.
Der Film operiert mit architektonischen Mustern, die keine Frage nach ihrem Woher? aufwerfen, keine Fragestellung mit sich führen, die den Betrachter aufhält. Erst in der zweiten, vielfachen Betrachtung werden diese Settings deutlich und führen zur Vertiefung der Lektüre, nicht selten zum eigentlichen Gehalt des Films. Auf das im wesentlichen retrospektive Dekor von Sci–Fi Filmen komme ich weiter unten zurück. Es sei hier nur gesagt, dass Wiedersehen Wohlbefinden und Gewissheit erzeugt.
Vor diesem Hintergrund ist es im Umkehrschluss nur verständlich, dass in reinen VR–Welten aus dem Rechner menschlich anmutende Avatare, Bäume und architektonische Dekors derart eingesetzt werden, dass den Vergrösserungsmöglichkeiten immer die gleichen Parameter zugrunde gelegt sind, denn auch hier herrscht eine von den Proportionen her anthropotopische Perspektive. Hier gäbe es die Möglichkeit eine Architektur zu entwerfen, die abgelöst von jeglicher Wirklichkeitsfolie existiert.
Architektur im Film stiftet Proportion, verheisst Halt und Augenmass, um Bewegungsrichtung, Tempo und Volumen einschätzen zu können. Der Architektur kommt die Rolle eines Konservators zu, eine unbewegliche Erinnerungsmaschine, die durch reine Anwesenheit zu evozieren weiss. Proportion als Erinnerung an die wirkliche Welt.

Architektur dient als topografisches Zeichen und Sozialisation

Die dritte Funktion und am meisten beachtete Aufgabe der Architektur im Film aber obliegt im Bergen der dramatis personae. Sie ist – wie im wirklichen Leben – Herberge und soziales Dekor seiner Protagonisten. Sie ist reich oder arm, opulent oder karg, öffentlich oder privat. Die Helden und Opfer leben und arbeiten dort und darin. Architektur im Film ist der Aufenthaltsort der Handlung und macht dies als gut und meist einfach lesbares Zeichen deutlich. Diese Zeichen – Stadt, Haus, Hütte, Palast – werden der Bewegungsdarstellung als Ort, Platz, Arena zugeordnet. Die Handlung erhält nicht nur optisch einen Hintergrund, der den Blick begrenzt, die Handlung wird durch die Architektur um stumme Erzähler ergänzt, die das Set bevölkern und vielstimmig einem Chor vergleichbar den Background bilden, der jenseits von Plot und Aktionen die Erzählung erweitert. Architektur im Film hat berichtende, erzählende Wirkung, die zum Zeichen reduziert geografische Details, Formen von Sozialisation und historische Komponenten liefert.
Architektur im Film in dieser Funktion wird gecastet, wie man Darsteller auswählt. Sie wird auf Wirkung und Funktion überprüft im Hinblick auf Licht, Form und Historie. Dabei wird sie schon in früh in der Planung bis hin zur Endfertigung segmentiert, zerteilt, zergliedert und umgenutzt. Genuine Funktionen werden ausgetauscht und etwas anderes eingebaut; eine störende Wand in der Nachbearbeitung retouchiert, der Himmel über der Stadt mit Häusern aufgefüllt aus einer anderen Perspektive. Jedes Detail existiert ausschliesslich zu einem einzigen Zweck: es muss der filmischen Erzählung zum Fortgang verhelfen.
Architektur im Film hat nur in Bezug auf den Film und seine Grammatik eine Funktion. Ihre Funktion und Bedeutung im Film erfüllt nur in Bezug auf ihre reproduktive Gestalt einen Sinn. Architektur im Film hat keine Funktion in der Wirklichkeit, sie ist ausschließlich Zeichen und Stellvertreter.
Der Aufgabe innerhalb der Wirklichkeit entledigt, hat die Architektur im Film ausschliesslich die Funktion Imagination auszulösen, eine Architektur zum Träumen. Architektur im Film stellt etwas vor und bietet Erinnerung, wo individuell keine vorliegt.
Architektur im Film sagt: Das ist so. Das war so.
Erzählendes Dekor ist beschriebene Umgebung. Architektur im Film liegt zu aller erst als Text vor, bevor sie zum Zeichen im Bild mutiert, gecastet oder im Studio aufgerichtet. Wie alles beim Film ist auch sie zuerst Wort.
Dabei unterliegen die Architektur im Film den gleichen Prämissen von Auswahl und Exklusivität wie alle anderen Teile der Filmherstellung. Man sucht das Aussergewöhnliche, originäre solitäre Ereignis, Objekt, Detail. Gebaute Architektur wird nach erzählerischen, visuellen und technischen Kriterien betrachtet. Im Zuge wachsenden Einsatzes von digitalem, virtuellem Dekor wird die abgebildete Architektur wie im Studio generell nur für den Moment der Belichtung gebraucht, sie kann anschliessend nicht mehr bereist werden. Manche Details werden sich möglicherweise in ein Filmmuseum retten können.
Der Film hinterlässt eine Stadt der Zeichen, die seiner subjektiven Fabel dienen, nicht den Wünschen ihrer Bewohner. Die Stadt mit den Augen der Autoren gesehen, lässt die meisten Gebäude, Strassen und Viertel unbeachtet. Für den Film existiert die Welt nur in Bezug auf ihre Wirkung, eine andere Perspektive fehlt, wie wohl Filme existieren, die andere Perspektiven entfalten.

Kleiner Kriterienkatalog für ein Gebäude mit Starallüren:
1. Sei extravagant und unverwechselbar.
2. Lasse dich oft fotografieren.
3. Erinnere irgendwie an andere berühmte Gebäude.
4. Lasse dich oft fotografieren.
5. Sei freundlich und offen zu Besuchern.
6. Deine Funktion ist Wirkung. Andere Funktionen sind zu vernachlässigen.
7. Lass dich oft fotografieren.
8. Wähle für Dein Äusseres Materialien, die Dich in Würde altern lassen.
9. Vergiss das Altern. Fotografie verspricht ewige Jugend.
10. Lass dich oft fotografieren.

Architektur dient der Fiktionalisierung

Architektur im Film existiert als ein Zeichen von Zeit, ein Körper im Prozess. Sie verweist auf eine objektive Zeit im historischen Sinne und transportiert die subjektive Zeit ihres Alterungsprozesses. Eine Architektur darf viel erlebt, sie kann wie ein alter Haudegen grosse Stürme abgeritten haben. Architektur kann Haupt– und Nebendarsteller sein. Sie erzählt durch ihr so–geworden–sein und steht mithin als das Zeichen eines historischen Dokuments. Wie ein Überbleibsel, Menetekel einer untergegangenen Epoche spricht sie und kündet im Heute vom Gestern.
Der Film sucht diese Zeitverweise, um sich mittels dieser Zeugen der Geschichte zu vergewissern, um sich in den Bezügen zur Wirklichkeit verorten zu können. Er benutzt Architektur im Bild zur Begründung von Zeit. Die filmische Fiktion gründet auf klaren Verabredungen zwischen Autor und Publikum und bedarf somit der Übertragung von Wirklichkeitszeichen als Verbindung des filmischen Bildes zur Wirklichkeit. Diese verbindliche Verankerung verlangt jede Fiktion, sonst kann sie als Erzählung in der Welt nicht existieren. Jedes Detail wird dabei auf seine Glaubwürdigkeit hin vom Publikum überprüft und je näher dekorative Elemente an die fiktive Biographie des Helden angelehnt werden, desto möglicher wirkt die Fiktion. Dem Dekor aus Wirklichkeit entspricht der Konjunktiv, die Möglichkeitsform innerhalb dessen, was als wahr und denkbar erachtet wird. Die erzählte Fabel wird einem virtuellen Ei gleich vor einem Nestdekor inszeniert, dessen Geflecht so viel Wirklichkeit wie irgend notwendig enthalten sollte. Das Dekor aus Wirklichkeit und Nähe als ästhetisches Feedback zeigt die Naht zwischen indikativischer Existenz des Publikums und konjunktivischer Fabel. Es suggeriert Sicherheiten und Relation.

Welche Rolle also spielt Architektur im Film?

Architektur im Film hat die Funktion Erinnerung zu produzieren. Architektur im Film dient der Vergewisserung von Welt, wie der Blick in den Spiegel zeigt, das der Betrachtende menschliche Züge trägt. Das architektonische Dekor ist mithin Rückblick, Echo, kurz: Vergangenheit, während die Fabel alle Züge vollkommener Möglichkeitsform, bis hin zur futuristischen Fiktion tragen kann.
Das Dekor ist – ob private oder öffentliche Architektur – in der kollektiven Biographie für alle zugänglich und verbindlich, während das einzelne Schicksal, besonders das fiktionale sich dieser Verbindlichkeit versagt. Nur in diesem realen Setting gedeiht der Satz: „Dies ist eine wahre Geschichte.“
Deutlich von hier aus, weshalb die futuristische Fabel im Dekor retrospektiv sein muss. Der U–Topos ist schwerer zu beschreiben als der U–Logos gesprochen wird. Dabei wäre der U–Logos ein Unwert, besser ein Nichts. Schweigen. Erst vor oder innerhalb bekannter Topoi – und seien es nur Versatzstücke – kann der Logos etabliert werden, der im bestehenden Topos vom U–Topos erzählt. Hier werden Wort– und Aktionsgebilde errichtet, keine Gebäude aus Stein. Architektur kann nicht Behauptung sein, sie will / muss Wirklichkeit werden und damit ist sie immer retrospektiv im Sinne konjunktivischen Erzählens.
Architektur im Film ist Herberge und Nahtstelle von der aus und aus der heraus gedacht, und gehandelt werden kann. In einer wirklichen Architektur kann Futur entwickelt werden und hierin entwickelt Architektur im Film ihre metaphysische Dimension:
Sie ist heute Ort von Morgen.

Martin Kreyssig, 2002


Im Park

Titelgrafik "Im Park"

„Zuerst muss man fähig sein zu bewundern.“ Gilles Deleuze

„Im Park“ ist ein szenischer Essay von Martin Kreyssig.

Daraus einige Szenen:

Die Welt im Park erscheint dem kritischen Betrachter mal als Klinik, mal als Bergwerk, wie man es aus Museen kennt, mal als Galerie, manchmal wie ein Paradies. Nicht selten, und die Begriffe fallen mit den Eindrücken zusammen.

 

EVER NEVER. Langsamer Monolog aus zwei Worten, in deutscher Diktion gesprochen, zu Beginn normal schnell, die Worte getrennt, dann zunehmend zu einem Wort verschmelzend, im letzte Schritt nur noch die E-Laute vernehmbar, das Knochengerüst der Konsonanten zermahlen: EEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEE.

 

Die Geographie des Parks ist Seelenkunde, Ermittlung und Anleitung.

 

An der Simon- oder Goldbergsäule lauscht man einer akustischen Installation. Hier wird in zweiunddreissig Variationen der Satz gesprochen: Wo ist der Punkt?

 

Von aussen nimmt man das viereckige und fensterlose Gebäude aus Klinkersteinen im Gelände kaum wahr. Betritt man den Innenhof durch den einzigen Eingang von Norden her, steht man inmitten von vier Tempelfassaden aus griechischer Vorzeit. Die Aussenwände des Tempels nach innen geklappt, lassen sich drei monumentale Wandstücke gleichzeitig betrachten. Der Tempel als Bühnenbild.

 

Es liessen sich Liebesgeschichten, Biografien, Heldenreisen, Dramen und Abenteuer vorstellen. Könnten hier Begegnungen, glückliche und empfindsame Momente, wahre oder unwahre Begebenheiten inszeniert werden? Wäre hier der Ort, Gesichter zu sehen, Worte zu hören, deren Anmut, Härte oder Ironie den Park in seiner Wirkung zurücktreten und als Hintergrundrauschen verblassen liessen? Wäre eine Stück Leben wie ein Teil der Wirklichkeit zu entdecken, wie verhielte sich die virtuelle Wirklichkeit des Parks dazu? Und platzierte man hier pralles Leben wie einen nackten Schrei – wäre davon zu hören?

Der Park ist nichts, vielleicht eine Unruhe, ein Zittern.

 

Den Landkartenraum betritt man auf dessen umlaufender Galerie. Aus grosser Höhe sieht man auf den Park als Ganzes im Maßstab 1:1. Hier lässt sich das Paradox in seiner ursprünglichen Schönheit genießen.

 

Im Echosaal lauscht man den Stimmen vergangener Jahrhunderte. Das schneckenförmig gedrehte Gewölbe zeigt an seiner Kassettendecke Portraits aller an diesem Bauwerk beteiligten Handwerker. Athanasius Kircher spricht vom Bandrekorder Krapp’s Last Tape. Weltaneignung im Dialog mit Echoapparaten: Quellen sprudelnder Spiegelbilder und Totenmasken.

 

Der Park zeigt eine Ausstellung der Eitelkeiten, eine Messe neuster Moden. Nach wenigen Tagen ist alles vergessen, der Rollrasen im Schrank, die Garagentore geschlossen. Erwartungsvolle Stille vor dem nächsten Gig. Vorhang.

4:3 – Beckett im Quadrat – Inszenierungen für das Fernsehen

Einladungskarte Westwerk

4:3 – Beckett im Quadrat – Inszenierungen für das Fernsehen
Eine Programmübersicht von Martin Kreyßig

Gehalten am 2. Juni 2017

Samuel Becketts (1906-1989) televisions plays sind hoch formalisierte Inszenierungen, die das Medium Fernsehen und das Genre Fernsehspiel mit einem Minimum an Narration an seine Grenzen führen.

Am Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart konnte Beckett zwischen 1966 und 1986 sechs Stücke realisieren. Die Mittel des Fernsehens auf wesentliche Aussagen reduziert – Aufbau und Ablauf der Choreographien erinnern an naturwissenschaftliche Versuche – konzentrieren sich die Arbeiten auf den Körper und die Aufzeichnung der Handlungen ohne technische Finessen: Stimme, Schweigen, Verschwinden. Sämtliche Fragmente erzeugen mit ihrer Kombinatorik eine Geometrie des Rituals, ein musikalisches Ritornell.

Der französische Philosoph Gilles Deleuze hält in seinem Essay „Erschöpft“ (1992) diese Fernseharbeiten für die Essenz der Entwicklung des Dichters, Dramatikers und Nobelpreisträgers: „Es ist, als ob man gleichzeitig ein Hörspiel und einen Stummfilm vorführte.“

Der Vortrag bietet eine Programmübersicht über das filmische Werk von S. Beckett, zeigt Ausschnitte und verknüpft die Arbeiten mit künstlerischen Positionen seiner Zeit.

Amerika von Carsten Rabe als Filmessay

aus "Amerika" von Carsten Rabe (c) Carsten Rabe

Gerade erschienen:

Carsten Rabe: »Amerika«

97 Abbildungen

205 x 275 mm, 184 Seiten

Mit Texten von Nina Lucia Groß und Martin Kreyßig

ISBN: 978-3-86485-184-1

Textem Verlag, Hamburg 2017, 39 Euro

 

Pressetext:

Keine der Fotografien im Fotobuch »Amerika« wurde in Amerika fotografiert. Die Betrachter erfahren nicht, wo diese Bilder entstanden sind. Ort und Datum gelten als wesentliche Indikatoren im Medium der dokumentarischen Fotografie, aber in »Amerika« werden keine Dokumente gezeigt. Die Herkunft der Fotos, Ort und Zeit ihrer Herstellung sind bedeutungslos. Der indexikalische Charakter von Fotografien wird verweigert. Entscheidend ist für Rabe der Bilderzyklus, die Reihenfolge, die Montage und Erzählung der Inhalte mit ihren visuellen Strukturen wie Kontrast, Rhythmus, Farbigkeit und Perspektive.

Die Fotografien schweben in einem Illusionsraum, der Geografie und Zeitdimension neu definiert. Die Betrachter verorten die Fotografien in Raum und Zeit unter der Headline Amerika. In geteilter Autorschaft öffnet das erzählerische Verfahren von Carsten Rabe den Betrachtern die Möglichkeit, die fotografierte Lektüre mit ihren erinnerten Bildern eines imaginären wie realistischen Amerika in Übereinstimmung zu bringen. Amerika setzt sich bei der Betrachtung der Fotografien zu einer Realität zusammen, die nicht existiert. Die Betrachter werden mittels der Fotografien nicht über Amerika informiert, sondern sondieren den Zusammenhang zwischen erinnerten Amerikabildern oder Bildern, die sie Amerika zuschreiben, und den Amerikabildern von Rabe, die Amerika inszenieren.

Mit den Fotografien zeigt Carsten Rabe etwas. Er benennt das Gezeigte mit dem Titel Amerika und versieht es mit einer artifiziellen Spur. Wir, die Betrachter, sehen alles im Buch »Amerika« Gezeigte als Spur eines Amerika. Die Spuren finden sich aber nicht auf den gezeigten Fotografien, sondern in unseren Erinnerungen von Gezeigtem aus anderen artifiziellen Zusammenhängen oder in Erinnerungen, die wir von Reisen nach Amerika mitgebracht haben. Die Erzählung und Bildfolge Amerika besteht aus Als-ob und Als-wäre. Das lässt den Mythos einmal mehr magisch leuchten. Amerika bleibt Amerika.

Ausstellung Axel Klepsch 2014

Edward L. Ryerson (E.L.R.) 03 / by Axel Klepsch

Rede anlässlich der Ausstellung von Axel Klepsch in Wuppertal, Wolkenburg 48, in Räumen von Claudia Kempf am 6. Dezember 2014

Liebe Freunde, Liebe Gäste, Lieber Axel,

Ich freue mich sehr heute zur Ausstellungseröffnung von Axel Klepsch in Wuppertal einige Worte zu den ausgestellten Werken sprechen zu dürfen. Mich freut dies besonders, weil uns eine lange Freundschaft verbindet. Es begann im Orientierungsbereich der Kunstakademie Düsseldorf und intensivierte sich in den Jahren 1982 bis 83 während des gemeinsamen Studiums in der Klasse von Nam June Paik, bis ich die Klasse in Richtung Berlin verließ. In dieser Zeit haben wir einige gemeinsame Arbeiten verfasst, geteilte Autorenschaft sozusagen. Es entstanden Filme, Dokumentationen, Videos, performatives Zeug und Skulpturen. Mir sehr lebendig in Erinnerung ist die gemeinsame Reise nach New York 1982 zur Retrospektive von Paik im Whitney Museum of American Art. In dieser New Yorker Zeit sind einige kurze Super-8 Filme entstanden, unter unserem Label „Roaches Film“, die wir schnell und spontan gedreht haben. Später in den 90er und 2000er Jahren wurden unsere Kommunikationsfäden dünner, berufliche Verpflichtungen, das liebe Geld, Heiraten dort – Kinder hier, das Übliche, was uns alle mal mehr mal weniger entzweit.

 

Von Träumen und Alpträumen – bildnerische Arbeiten von Axel Klepsch

 

Die Ausstellung zeigt eine Reihe von Ölbildern, Zeichnungen mit Kreidestiften gefertigt und Zeichnungen mit Ölfarbe pastös aufgetragen. Große und kleine Formen. Bei den Ölbildern ist der Betrachter gefordert sich zu bewegen, um gleichsam aus der Totale den Bildinhalt zu erfassen, oder für das Close up näher an den Bildträger heranzutreten, um feine Strukturen zu erkennen. Dies führt zu einer beweglichen Betrachtung, denn wir erleben im Nahfeld die feinen Hintergrundmotive bei fast intimer Betrachtung und in der Fernsicht, aus der Totale heraus, die gesamte Komposition. Die Bilder halten uns gleichsam in Bewegung als erginge man sich auf einem erhöhten Küstenstreifen und versucht ein Objekt am Horizont auszumachen. Die horizontale Gliederung aller Bildkompositionen wirkt als Maß stiftende Linie, der Horizont weist dem Betrachter einen festen Platz zu. So konstruiert wirken die Bilder wie Projektionen, die aus unterschiedlicher Distanz wahrgenommen werden möchten.

 

Axel Klepschs Passion sind Schiffe und das Meer. Riesige Objekte in weiter Ferne, Industrieprodukte, Militärmaschinen, See- und Kriegsgerät, waffenstarrende Kolosse, die irgendwohin unterwegs sind. Häufig scheinen sie nach Osten zu gleiten, der Bug zeigt nach rechts, seltener gen Westen: Armaden, Geleitzüge, Armeen. Besonders die mittelformatigen Ölbilder – zwischen 2007 und 2013 entstanden – versammeln erschreckende Szenarien, die wir aus der mal propagandistischen, mal kritischen Kriegsberichterstattung der Massenmedien her kennen. Perfekte Schönheit der Technik, Vollkommenheit in Präzision – man schaut sich einen Katalog von Kriegsgerät an oder besucht die Waffenausstellung in Abu Dhabi: Geile Pötte.

 

Doch löst sich das machtstrotzende Gebaren meist in der Zerstörung auf, in den Untergängen, wenn Menschenopfer zu beklagen sind. Krieg ist in seiner fotografischen Repräsentation seit dem Krimkrieg 1855, wie Susan Sontag in „Regarding the Pain of Others“ ausführt, immer ein Schreckensbild, propagandistisch inszeniert oder dokumentarisch faszinierend im Stil der Warphotography. In keinem Fall können wir uns seiner Aufmerksamkeit entziehen.

Axel Klepsch projiziert Fotografien mittels eines großen Positivprojektors auf die Leinwand. Er skaliert, verfremdet und inszeniert das fotografische Bild neu und überführt es in die Malerei. Diese Technik ist nicht unbekannt, Richter und Polke seien genannt, das Verfahren führt mittels der ästhetischen Überhöhung immer in die Distanz und löst das Vorbild aus dem Kontext seiner technischen und massenmedialen Produktionszusammenhänge. Wir sehen in vielen dieser Ölbilder die Auflösung des ikonenhaften Portraits in winzige musterhafte Schiffsreihen, Pixel oder Punkte, eine Art Zeilenschrift, Text und Textur. Die reproduktiven Techniken der Massenmedien werden mit dieser zeichnerischen Technik im Bildraum erinnert – in einer Art mechanisch wirkenden aber manuell ausgeführten Reproduktionsmethode. Dazu kauert der Künstler auf dem Boden und malt mit großer Akribie in einer Art Fronstellung hockend, gebeugt über dem Bildgrund, auf Bretter gestützt, um die Hand aufzulegen.

 

Erinnern wir uns: Axel Klepsch bekleidete vor seinem Leben als Künstler den Beruf des Tiefdruckfarbretuscheurs, saß an Leuchttischen und bearbeitete unter großen Lupen Vorlagen zur druckreife. Er kennt das Kleine im Großen, ist geübt in minutiöser Geduld, um Handlungen auf winzigem Raum auszuführen, weiß um die Bedeutung der Details, denn er schaut genau hin. Er ist ein Gestrandeter in seinem ersten Beruf und nimmt 1980 das Ziel in den Blick als Künstler die unbekannte See zu befahren. Axel verlässt mithin sichere, aber langweilige Gestade, sticht in See und sucht seitdem – vielleicht Inseln, vielleicht Treibgut, vielleicht Häfen.

Ich zitiere aus dem Gedicht „Radar“ von Gottfried Benn:

 

 

Wie weit sind Sund und Belt
und schwer die Hafenfrage,
wenn – ohne Takelage –
noch Nebel fällt!

 

Die Hafenfrage stellt sich uns allen. Findet jedes Lebensschiff seinen Bestimmungshafen? Wo endet die gefährliche Fahrt über das Meer? Wofür stehen Häfen?

 

Die Schiffskolosse verkleinern sich zu einer Masse, einem musterhaften Hintergrund. Hier im Bild löst sich das Materielle auf, wie Axel besonders betont. Vergrößern wir technische Bilder weit über die Auflösungsgrenze hinaus, bestehen sie aus Dots, Pixeln oder Bits and Bytes, deren Inhalt einerlei ist. Das technische Bild trägt keinen Inhalt, es zeigt immer nur einen Zustand: ON oder NO ON. Mich erinnert sein filigranes Handwerk an die zeichenhafte Malerei von Antoni Malinowski, dessen grafische Vorbilder Militärkarten entstammen oder sie lassen in ihrer Methode unentrinnbarer Auflösung an die Zahlenbilder Roman Opalkas denken. Axels malerischer Gestus schwebt ambivalent zwischen der großen bildnerischen Geste und ihrer Auflösung im Detail. Dies wirkt filmisch, wie zuvor angedeutet, aber wenn filmisch dann auch trügerisch, denn wie Lichtenberg in einem Aphorismen ausführt: „Man sollte die Bücher immer desto kleiner drucken lassen, je weniger Geist sie enthalten.“ Vielleicht liegt in diesem Bonmot der Schlüssel zu den echten Kriegsschiffen und ihrer materiellen Auflösung in der Kunst.

 

Einerseits betrachten wir in dieser Ausstellung das oberflächlich romantische Sujet versammelter Schiffe, Fernweh und „La Mer“ . Die Bilder zeigen andererseits aber zweifelsfrei Perspektiven des „Universal Soldiers“ , wie er vom Land aus betrachtet in der Ferne zumeist unsichtbar bleibt, wenn er als Schattenriss fremde Gestade und Kontinente erobert oder verteidigt, immer aber als Verlierer heimkehrt, wenn überhaupt. Das Meer als erträumtes Ideal wird zum Topos des Schreckens, zur Dystopie. Das Meer in seiner vollkommenen Dimensionslosigkeit ist für den Menschen der unmögliche Lebensraum schlechthin, mithin das große Gleichnis aller unerreichbaren Ideen und Träume.

 

Die Metapher vom Untergang auf See hat Hans Blumenberg umfassend in seinem 1979 publizierten Buch „Schiffbruch mit Zuschauer“ beschrieben, ich zitiere: „Zwei Vorraussetzungen bestimmen vor allem die Bedeutungslast der Metaphorik von Seefahrt und Schiffbruch: einmal das Meer als naturgegebene Grenze des Raumes menschlicher Unternehmungen und zum anderen seine Dämonisierung als Sphäre der Unberechenbarkeit, Grenzenlosigkeit, Orientierungswidrigkeit. Bis in die christliche Ikonographie hinein ist das Meer Erscheinungsort des Bösen, auch mit dem gnostischen Zug, dass es für die rohe, alles verschlingende und in sich zurückholende Materie steht.“ Blumenberg berichtet in seiner Schrift im weiteren von Biografien, die erst als Schiffbrüchige glücklich zur See fahren können, wir erinnern uns an Axels berufliche Neuorientierung. Hoffnung und Schrecken liegen im Bild der Seefahrt eng beieinander, sie bedingen sich.

 

Die frühen Kinderheimaufenthalte auf der Insel Norderney in den späten 50er Jahren zeigen den jungen Axel fasziniert, er sah: Schiffe, Schiffe, Schiffe. Er träumt, und diese Träume sind in den Bildern ebenso zu erkennen, wie sie den Alptraum zeigen, das falsche Ideal und Trugbild der Hoffnung. Die Reise wird zum Vorteil des Reisenden nur virtuell angetreten. Wie in vielen seiner Videoarbeiten sehen wir Versatzstücke von Träumen leichter Matrosen, mythologisch aufgeladene Ausschnitte aus Magazinen und Nachrichten, die immer schon publiziert sind, abgegriffen, benutzt. Oder traurig und untergegangen wie in den vier Bildern nach „E la nave va“, dem Film von Federico Fellini, dessen Allegorie auf den Untergang im Juli 1914 spielt, in dem eine Gruppe exzentrischer Künstler von den ersten Stürmen des Weltkriegs überrascht wird. Wenn man will, der selbstgefällige Dampfer Europa von Flüchtlingen zum Kentern gebracht.

 

Axel Klepsch zerschneidet und editiert seine privaten Traumgebilde zu Kunstwerken aus fotografischen Vorlagen schmutziger Kriege – allesamt Schiffbrüche der Zivilisation. Damit entlarvt er Romantik „als verklärende Struktur“, wie Rüdiger Safranski 1997 in seinem Buch „Das Böse“ nachweist. In falscher Romantik, inklusive Utopien und Ideologien, steckt das Böse, weil es Irrwege anbietet, zumeist mit dem Ziel den Menschen zu bessern und ihn durch falsche, verklärende Bilder zu steuern. Axel Klepsch entgegnet seinen Träumen und sich selbst in einem anhaltenden inneren Dialog, der sich wie ein aus Realismus gesponnener Faden durch sein Oeuvre zieht und dieses Werk an einem Horizontstrich zusammenhält:
Romantische Hoffnungen sind falsche Träume.

 

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

Ausstellung von Axel Klepsch – Rede von Martin Kreyßig am 06.12.2014