blurred edges – Under Construction & Split Friction

Left picture shows Birgit Ulher, German composer-performer, sound artist. Right picture shows Seiji Morimoto with sky tape. He is a Japanese artist who works with performance, composition and installation

Split Friction – Under Construction

im Rahmen des blurred edges • Festival für aktuelle Musik Hamburg, 31.5. – 16.6.2024

Zeitraum: 02.06.-16.06.2024

Vernissage: 02.06.2024 – 18 Uhr:
– Live-Performance Birgit Ulher ‚Public Transport‘ (2019)
– Live Performance Seiji Morimoto: ‚Short Summer‘ (2010)
– Vortrag von Prof. Martin Kreyßig

Öffnungszeiten: Sa/So, 08./09. und 15./16.06., jeweils 15-18 Uhr

Morimoto und Ulher thematisieren in ihren Arbeiten den Einfluss von natürlichen Gegebenheiten wie Wind und/oder Wasser, durch die Objekte bewegt werden und Klänge entstehen, die sich mit den Umgebungsgeräuschen mischen.

Seiji Morimoto ist ein japanischer Künstler, der sich mit Performance, Komposition und Installation befasst. Er lebt und arbeitet seit 2003 in Berlin, wo er u.a. die Konzertreihe ‚Experimentik‘ im Tik Berlin kuratiert. Gezeigt werden seine Außeninstallation ‚500m Stretch’ und das Video ‚Under Construction’ mit Bildern und Geräuschen von Baustellen in Berlin.

Birgit Ulher lebt als freischaffende Musikerin, Klangkünstlerin und Komponistin in Hamburg. Sie ist mit ihrer Konzerttätigkeit international unterwegs. Gezeigt werden ihre Videos ‚How to Get Away by Car‘ und ‚Flotsam & Jetsam‘ sowie ihre Klang- und Konzertinstallation ‚Public Transport‘, die mit Geräuschen von Plattenspielern arbeitet.

Strobreden – Haus für Klangkunst-Enthusiasten
Bahrenfelder Chaussee 144
22761 Hamburg

Birgit Ulher plays PUBLIC TRANSPORT, Strobreden Hamburg 02.06.2024 @ Martin Kreyssig
Seiji Morimoto plays SHORT SUMMER, Strobreden Hamburg 02.06.2024 @ Martin Kreyssig
180m STRETCH, Seiji Morimoto, Installation Strobreden Hamburg 02.06.2024 @ Martin Kreyssig
180m STRETCH, Seiji Morimoto, Installation Strobreden Hamburg 02.06.2024 @ Martin Kreyssig
180m STRETCH, Seiji Morimoto, Installation Strobreden Hamburg 02.06.2024 @ Martin Kreyssig
Prof. Martin Kreyßig, Rede zu Arbeiten von Birgit Ulher und Seiji Morimoto @ Foto: Gunnar Lettow 2024

Birgit Ulher – Split Friction – Audiovisual Works

Auf einer schwarzen Schallplatte mit Schrift steht ein gelber VW-Bulli als Spielzeugplattenspieler.

7.1.2024, 18 Uhr
FRISE, Arnoldstrasse 26-30, Hamburg-Altona-Live-Performance des Stücks ‚Public Transport‘ – für Trompete, LPs und Record Runner

Für das Stück wurden LPs mit Geräuschen von Plattenspielern aufgenommen Diese Schallplatten werden mit „Record Runnern“ (Spielzeugplattenspieler in Form farbiger VW-Busse) abgespielt, über Lautsprecher ausgegeben und fungieren als Zuspielung für die Trompetenstimme So bilden die Schallplatten als Speichermedium und der Plattenspieler als Klangquelle den Ursprung der Klänge und ihre Reproduktion Die Installation in Public Transport invertiert mithin die mediale Paarung aus Langspielplatte und Abspielgerät. –

Gespräch mit Martin Kreyßig (Autor) und Birgit Ulher über ihre audiovisuellen Arbeiten.
– Gezeigt werden drei Videos von Birgit Ulher: ‚Flotsam & Jetsam‘, ‚How to Get Away by Car‘ und ‚Wanderlust‘.

Veranstaltungshinweis beim Verband für aktuelle Musik

Der Katalog Split Friction über audiovisuelle Arbeiten von Birgit Ulher ist in Zusammenhang mit ihrer Ausstellung Split Friction im Errant Sound in Berlin vom 24.-26. November erschienen. ISBN: 978-3-00-076664-0

96 Seiten in Englisch und Deutsch, mit Texten von Martin Kreyßig und Johan Redin, vielen Fotos und QR-Code zu ihren Videoarbeiten und Dokumentationen.

Split Friction ist ein interdisziplinäres Projekt von Birgit Ulher, das sich im Spannungsfeld von Ausstellung, Video, Performance, Konzert- und Klanginstallation bewegt.

Die Videoarbeiten »How to Get Away I & II«, »How to Get Away by Car«, »Wanderlust«, »Flotsam & Jetsam« beinhalten bewegliche Objektklänge in Innen- und Außenräumen, die an Orten mit besonderen akustischen Eigenschaften aufgenommen wurden. Die Klang- und Konzertinstallationen »Public Transport« und »Robo Tins« sind Klanglandschaften mit beweglichen Objekten im Raum, die sowohl als Konzertinstallationen bespielbar sind als auch als reine Klanginstallationen präsentiert werden. 

Eine Frau im roten Kleid sitzt in einem weißen Raum und spielt Trompete. Rechts und links von ihr liegt je eine Schallplatte auf dem Boden, darauf ein roter bzw. blauer Spielzeugplattenspieler in Form eines VW-Bullis.
Birgit Ulher | Split Friction | Audiovisuelle Werke © Birgit Ulher

Birgit Ulher lebt als freischaffende Musikerin, Klangkünstlerin und Komponistin in Hamburg. Nach ihrem Studium im Bereich der Freien Kunst und Malerei entwickelte sie mit Trompete, Radio, Lautsprechern und Objekten ihre eigenen Spieltechniken und Präparationen. Abgesehen von dieser Materialforschung gilt ihr besonderes Interesse dem Verhältnis von Stille und Klang. Ihre Arbeit umfasst akustische und elektroakustische Projekte, Solo-Performances, Konzert- und Klanginstallationen, Videos, Konzeptstücke und Konzerte im Bereich der improvisierten / experimentellen Musik. Sie erhielt zahlreiche Stipendien u.a. von QO-2 Werkplaats (Brüssel), Künstlerhaus Lukas (Ahrenshoop), AIR (Mexico Stadt und Krems) und ist mit ihrer Konzerttätigkeit international unterwegs. 

Eine Frau im blauschwarzen Kleid sitzt auf einem Hocker in einem weißen Raum und spielt Trompete. Auf dem Boden stehen drei Blechdosen im Raum verteilt.
Birgit Ulher | Split Friction | Audiovisuelle Werke © Birgit Ulher

Birgit Ulher – Split Friction – Audiovisual Works

catalog details: 96 pages in English and German with texts by Martin Kreyßig and Johan Redin, many photos and QR code to the video works and documentations. Edition of 300 copies, bound, 26 x 22cm. The Catalog is published on the occasion of Birgit Ulher’s exhibition Split Friction at Errant Sound in Berlin from November 24-26, 2023.

30 € inclusive packaging plus postage.

orders: birgit(at)birgitulher.de

Birgit Ulher | Split Friction | Aufführung am 24. November 2023, Errant Sound Berlin @ Foto Martin Kreyssig 2023

Thema: Zukunft

Festrede von Prof. Martin Kreyßig anlässlich der feierlichen Verabschiedung der Absolventinnen und Absolventen am Fachbereich Automatisierung und Informatik der Hochschule Harz in Wernigerode am 25.11.2022

Liebe Absolventinnen und Absolventen, liebe Eltern und Freunde, liebe Kolleginnen und Kollegen!

Anlässlich der Verabschiedung der Absolventinnen und Absolventen von der Hochschule Harz kommt mir die Freude zu, eine Rede zu halten. Thema? Zukunft.

Zukunft nennen wir die Zeit, die auf der linearen Zeitachse vor uns liegt. Der deutsche Begriff leitet sich aus dem Verb „zu-kommen“ ab, meint also, das auf uns Zukommende. Andere europäische Sprachen nennen diese Zeit ‚Future‘ oder ’futuro‘. Der Begriff leitet sich aus dem Lateinischen ‚futurum‘ ab und bedeutet: „was sein wird“.

Spannend klingt auch die altgriechische Variante, hier interpretiert der Begriff [to loipon] Zukunft als „Rest“ der Zeit.

Die Sache mit der Zeit ist nicht einfach. Wie kann die Zeit einerseits wie ein Pfeil fliegen, während sie sich auf der Armbanduhr im Kreis bewegt?

Das Ziffernblatt erzählt von zyklischer Zeit. Hier kommt die Zeit daher wie die Jahreszeiten, der zu- und abnehmende Mond, ein Loop in der Musik – Ereignisse, die sich regelmäßig wiederholen.

Uhren oder der heute noch gültige gregorianische Kalender aus dem 16. Jahrhundert, Kirchenglocken, die zur Messe rufen, die Tagesschau oder Serien – sind programmierte Kreisläufe, die dem Publikum einen sicheren Rhythmus bieten. Die sogenannte Programmzeit vermittelt uns Gewissheit über erwartbare Ereignisse. Die Vorlesungen beginnen um 8 Uhr und dauern 90 Minuten. Zukunft ist planbar.

Das Internet kennt keine Programmzeit. Die Nutzer:innen agieren asymmetrisch. Angebote und Suche treffen irgendwann aufeinander oder nicht. Das Internet ist ein Raum mit unendlich vielen vernetzten Gleichzeitigkeiten.

Die Grundgesetze der Thermodynamik und der Quantenmechanik lehren, Stichwort: Relativität, dass die Zeit abhängig vom Punkt der Beobachtung in keiner Weise gerichtet verläuft. Denn die Gravitationswirkung großer Massen beeinflusst die Zeit.

So arbeiten die Wissenschaften mit zwei Modellen:

Das eindimensionale lineare, empirische Modell interpretiert Zeit als subjektives Erleben, nennen wir es »Fluss der Zeit« mit den Relationen früher/später.

Das andere, kosmologische Modell eines expandierenden Universums sieht Zeit als eine relative Konstante. Achten Sie am 10. Dezember einmal darauf, für welche Leistungen drei Forscher mit dem diesjährigen Nobelpreis für Physik geehrt werden. Stichwort: Quantencomputer.

Schauen wir in die Sterne. Bereits vor 2.500 Jahren deuteten griechische Philosophen die Perioden der kosmischen Bewegungen am Sternenhimmel als ein Zeichen der Unendlichkeit der Welt. Noch davor versteckte sich für Babylonier und Ägypter in Astronomie und Astrologie eine Art Zukunftswissen. Die Zukunft wurde von Propheten, Orakeln und Druiden interpretiert, sie stellten Prognosen für die Zukunft.

Seit jeher machen sich Menschen Sorgen um das auf sie Zu-kommende. Wie werden wir in zehn Jahren leben? Bleiben wir gesund? Steht die Welt schon bald in Flammen? Und seit jeher werden Antworten auf diese Fragen angeboten.

Zukunft als Schicksal?

Wenn wir die Sterne betrachten, schauen wir tief in die Vergangenheit, denn das Licht braucht eine sehr lange Zeit, bis es uns erreicht. Um die Raumgröße zu verstehen, vergleichen wir zwei Zahlen unterschiedlicher Einheiten: Das Licht benötigt von der Sonne zur Erde etwa 8,5 Minuten. Das Licht von dem uns nächst gelegenen Stern Proxima Centauri benötigt zur Erde etwa 4,3 Lichtjahre. Astrophysiker schauen in die Vergangenheit und stellen Annahmen auf, welche Zukunft die Vergangenheit erwartet.

Wir sind es mithin gewohnt zurückzublicken, um die Zukunft besser zu verstehen. Wir sollten nicht in die Zukunft gehen, ohne Gegenwart und Vergangenheit studiert zu haben. Die Zukunft lässt sich nicht ohne das Verständnis der Vergangenheit gestalten. Wir müssen wissen, woher wir kommen, um zu verstehen, wohin wir gehen.

Zukunft ohne Geschichte?

Prof. Martin Kreyßig, Festrede »Thema: Zukunft« anlässlich der feierlichen Verabschiedung der Absolventinnen und Absolventen am Fachbereich Automatisierung und Informatik der Hochschule Harz am 25.11.2022 © Hochschule Harz

Für Studierende ist es manchmal langweilig, weil die Frauen und Männer da vorne am Pult im Hörsaal, die immerzu sprechen, scheinbar alles besser wissen. Sie teilen ihr Wissen, ihre Erfahrungen den Jüngeren mit. Dafür wurden Schulen und Universitäten gegründet. Es sind Wissensspeicher. Zukünftige Wege basieren auf Erfahrungen und Kenntnissen.

Jedes universitäre Fach betreibt Zukunftsforschung, in sämtlichen Wissenschaften werden Prognosen entwickelt und diskutiert. Wir schreiben Trendanalysen mit explanativen Methoden, versuchen mittels Stochastik die Zukunft vorherzusagen. Strukturanalysen, Szenarien, Simulationen sollen Licht ins Dunkel tragen, sollen nachvollziehbare Fundamente für unsere Entscheidungen schaffen. Objektive Entscheidungen für langfristige Strategien.

All diese Verfahren möchte ich Projektionstechniken nennen. Die Herkunft des Begriffs »projizieren« meint: »vorwärtswerfen, hervortreten lassen«.

In Platons Höhlengleichnis wird dem Publikum ein Schattenspiel projiziert. Das Kino nutzt den Projektor als Bilderwerfer.

Ein studentisches Projekt z.B. ist ein in die Zukunft projiziertes, zeitlich begrenztes Vorhaben. Ein Projekt schiebt sich Schritt-für-Schritt aus der Gegenwart hinein in die Zukunft. In Projekten »entwerfen wir aus Möglichkeiten Wirklichkeiten« [V. Flusser: Digitaler Schein, 1991].

Zukunft als Fortschritt?

Der russische [sowjetische] Spielfilm „Stalker“ von Andrej Tarkowskij ist eine Reise zu einem Zimmer, der »Rückblick auf eine Zukunftsvision«. Stalker, die Hauptfigur, Kundschafter und Reiseführer, wirft Schraubenmuttern mit weißen Mullbinden bebändert als Wegmarkierungen. Er sucht mit seinen zufälligen Würfen eine Route – weil es keinen Weg gibt. Seine Wurfgeschosse funktionieren als Projektile, sie entwerfen eine Richtung, der die drei Figuren des Films nach-gehen. So tastet sich die Gruppe bis ins Innere einer menschenleeren Gegend vor und erkundet deren rätselhaften, paradoxen Erscheinungen.

Zukunft als Traum?

Zukunft meint Projektion und Zukunft meint Exploration. Für die Reise ins Unbekannte rüsten wir uns mit Wissen aus Gegenwart und Vergangenheit. Wir haben kein anderes Gepäck. Wir können nur ausprobieren, scheitern, erneut versuchen, und lernen. All unser Handeln ist davon geprägt, die Zukunft in kleinen Schritten zu betreten.

Dabei wird auch heutzutage die Zukunft von »Seherinnen und Sehern« gedeutet. Sterndeuter, Kaiser und Könige, Theologen, Päpste, Philosophen und Politiker, Futurologen, Wahrsagern und Verfasser von Horoskopen.

Seit Thomas Morus 1516 das Werk „Vom besten Zustand des Staates und über die neue Insel Utopia“ veröffentlicht hat, gehören auch die Künstler:innen zu den Propheten. Eine Utopie, altgriechisch U-topos, ein Nirgendsland ist eine Projektion, um die Gegenwart zu kritisieren. Schriftsteller:innen greifen zur Utopie, wenn ihnen für die Wahrheit Gefängnis oder der Tod droht. Also projizieren sie aus ihrer bedrückenden Gegenwart eine fern gelegene Insel, auf der ein idealer Zustand menschlichen Zusammenlebens konstruiert ist.

Zukunft als Utopie?

Der amerikanische Spielfilm „Soylent Green“ von Richard Fleischer aus dem Jahr 1972 trägt den deutschen Titel: »… Jahr 2022 … die überleben wollen«. Das New York des Jahres 2022 ist kein wirklich freundliches Utopia, eher die dystopische Umkehrung. Ich werde das Ende nicht spoilern, doch soviel sei gesagt:

Sämtliche Zukunftsstudien, ob „Die Grenzen des Wachstums“ für den ‚Club of Rome‘ 1972, der Bericht der ‚Nord-Süd-Kommission‘ oder „Global 2000“ stecken im Drehbuch schon drin. Der Film lohnt sich, projiziert er doch die Sorgen, Ängste und Befürchtungen aus den 1970er Jahren um 50 Jahre in die Zukunft, in unsere Gegenwart, das Jahr 2022.

Zukunft als Katastrophe?

Zukunft ist ein flüchtiger, auch ein dramatischer Stoff, mit dem wir uns recht quälen. In den Wissenschaften, in Parlamenten und am Küchentisch stellen wir uns die Zukunft vor. Wir entwerfen von ihr ein vages Bild. Sobald wir eine Ahnung oder Meinung zur Zukunft haben, antizipieren wir sie, versuchen uns ihr anzupassen, wie man sich in eine zu eng geschnittene Jacke zwängt. Oder wir lehnen uns gegen diese Zukunft auf, verweigern uns prophetischen Vorhersagen, lehnen wissenschaftlich belegte Ergebnisse ab.

Zukunft als »blühende Landschaften«?

Vor uns steht ein bis zur Hälfte geleertes Wasserglas. Die erste Hälfte haben wir getrunken, der Körper fühlt sich wohl. Ist das Wasserglas halbvoll oder halbleer?

Einige tendieren dazu, das Glas als halbvoll zu betrachten. Sie freuen sich auf die zweite Hälfte, die sie gleich trinken werden. Hey, immerhin ein halbvolles Glas!

Andere betrachten die Situation weniger entspannt. Ein halbleeres Glas deutet augenscheinlich darauf hin, dass auch die zweite Hälfte bald ausgetrunken sein wird.

Helle oder dunkle Zukunft?

Ich zitiere gerne den Dramatiker Heiner Müller mit seinem prophetischen Satz: »Optimismus ist Mangel an Information.«

Das zukünftige Dunkel hält alle Antworten in den Händen. Die Zukunft besteht ausschließlich aus Informationen, die wir nicht kennen.

Sie offenbart sich nur scheibchenweise. Und darüber sind wir ein kleinwenig beleidigt. Die Zukunft ist eine eitle, hochnäsige, arrogante Figur. Statt einfach zu sagen, was morgen abgeht, schweigt sie.

Was bleibt uns? Wir träumen, wir hoffen. Wir malen uns eine Zukunft aus.

Aber steuern nicht wir das Schiff der Zivilisation? Sind nicht wir für unsere Handlungen selbst verantwortlich? Drei Beispiele:

  1. Wir wissen, dass schwach- und mittelradioaktive Abfälle nach 500 Jahren nicht gefährlicher sind als Phosphatdünger. Nach rund 30.000 Jahren haben sie die gleiche strahlungsbedingte Giftigkeit wie Granitgestein. Na also, geht doch. Klare Prognose! Welche Schlüsse ziehen wir daraus? Welche Entscheidungen fällen wir für die nachfolgenden Generationen?
  2. Meine Studierenden haben einen wunderschönen Kurzfilm gedreht. In einer Szene tanzt eine Plastiktüte im Wind. Wir wissen, dass Micropartikel dieser Plastiktüte noch in 450 Jahren tanzen – im Ozean. Die anderen bunten Partikelchen haben sich in unseren Ur-ur-ur-enkeln eingelagert. Reines Zukunftswissen.
  3. 8 Milliarden Menschen leben nun auf der Erde. Was für eine Herausforderung! Aber, und ich zitiere Frank Swiaczny, Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Demographie. [Zitat: Tagesspiegel, 14.11.2022, S. 2]: »Das Problem ist nicht Überbevölkerung, sondern Überkonsum.«

Liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen, wir wissen einiges über die Zukunft. Und wir können sie durch unser Verhalten beeinflussen, jeder einzelne von uns.

Zukunft ist, was wir daraus machen.

Gegenwärtig erleben wir in unserem europäischen Haus wie die nähere Zukunft durch böse machthungrige Männer vergiftet wird, so dass wir umdenken und anders planen müssen. Wir gestalten die Situation, und in gewisser Weise passen wir uns an. Und in Anpassungsleistungen ist der Mensch gut trainiert, auch wenn diese Anpassungsprozesse langsam ablaufen. In jeder neuen gesellschaftspolitischen Situation versuchen wir in einem veränderten, sich beständig verändernden Habitat unseren Platz zu finden.

Zukunft als Egoismus?

Nach diesem Festakt, liebe Studierende, werden Sie als Absolvent:innen in die Welt ziehen und diese Welt verändern. Sie werden die Zukunft verändern. Ich hoffe, Sie werden klug und gewissenhaft, kollaborativ und solidarisch handeln, und machen diese Welt, unser Gemeinwesen mit ihrem Engagement ein Stückchen besser, friedlicher, bewohnbarer.

Dazu sollten Sie einander gut zuhören und miteinander sprechen.

Ich möchte Sie ermutigen, Ihre Meinung immer mit Courage zu vertreten, dabei offen, flexibel zu sein, besonders, um in Krisen und Konflikten Kompromisse zu finden. Das heißt, Sie werden immer wieder von einer projizierten Richtung abweichen müssen, um im Konsens mit anderen eine gemeinsame neue Richtung zu finden. Dabei helfen Ihnen Modelle, Projektionen, Simulationen – Wissen hilft.

Wir projizieren Ahnungen, Annahmen, Träume, Möglichkeiten, wir projizieren unser Wissen in die Zukunft. Gleichzeitig – und ich möchte das betonen – legt sich die Zukunft wie von selbst, wie ein Mantel um die Schultern: Ein ewig neuer Stoff aus Freude, Glück, Liebe und wundersamen Überraschungen.

Der Filmregisseur Werner Herzog hat gerade seine Memoiren vorgelegt. Herzog hat u.a. „Fitzcarraldo“ mit Klaus Kinski, oder „Grizzly Man“ gedreht. Er ist weltweit einer der außergewöhnlichsten Filmemacher. Seine Lebenserinnerungen enden mit einem Satz, der einfach abbricht. Herzog schreibt im Vorwort, während des Schreibens sei ein kupfern und hellgrün glänzender Kolibri wie ein Projektil auf ihn zugeschossen [aus: W. Herzog, Jeder für sich und Gott gegen alle, München 2022, S. 10]. Herzog entschloss sich in diesem Moment nicht weiterzuschreiben: »Der letzte Satz bricht einfach dort ab, wo ich gerade angekommen war.«

Ich wünsche Ihnen für die Zukunft alles Gute! Bleiben Sie neugierig!

Gruppenbild der Absolventinnen und Absolventen am Fachbereich Automatisierung und Informatik der Hochschule Harz am 25.11.2022 © Hochschule Harz

Film und Architektur – Architektur als Chor

Film und Architektur, Foto: @ 2010 Martin Kreyssig

Architektur im Film darf ihrer Funktion nach in vier Kategorien unterteilt werden:
1. Architektur dient der Bewegungsdarstellung
2. Architektur dient der Proportion.
3. Architektur dient als topografisches Zeichen und Sozialisation.
4. Architektur dient der Fiktionalisierung.

Architektur dient der Bewegungsdarstellung

Architektur – und ich unterscheide nicht zwischen der Location, dem Studiobau und dem Rechner gestützten, virtuellen Dekor – Architektur wird als festes, unbewegliches Bestandteil der filmischen Erzählung eingesetzt. Wie ein Baum steht, so gründet die Architektur im Boden. Um sie herum herrscht Bewegung, in ihrem Innern beherbergt die Architektur Bewegung.
Film ist a priori Bewegung – technisch betrachtet: der bewegte Filmstreifen, Rollen, Räder, Riemen – inhaltlich grenzt er sich von der älteren Fotografie durch die Möglichkeit der Bewegungsdarstellung ab. Der Regie gilt es als Aufgabe die Bewegung von Menschen und Objekten – Auto, Eisenbahn, Schiff und Flugzeug – vor einem unbeweglichen Dekor zur Geltung zu bringen. Die Bewegung selber wird erst deutlich durch die sie umgebende Unbeweglichkeit. Film hat also Bewegung zum Thema, benötigt aber Unbeweglichkeit zur Referenz und Bedingung. Wäre im Film alles in Bewegung, könnte das Auge das Wichtige vom Unwichtigen nicht unterscheiden. Wichtig für den Film ist der bewegliche, bewegte Mensch und das bewegte Objekt, dem Menschen Untertan. Architektur ist somit ein dreidimensionales Objekt vor dem und in dem sich etwas bewegt. Architektur ist Herberge und Hintergrund filmischer Bewegungszeichen. Architektur dient dem Status quo. Architektur ist in Bezug auf die Bewegungsdarstellung gefrorene Zeit – ein Freeze, ein dreidimensionales Standbild, ein Dekor, eine Kulisse in der Leben stattfindet. Dieses Leben bewegt sich hinein und heraus aus der statischen Kulisse, die Bewegung nutzt das Unbewegliche zum Aufenthalt, zur Rast, zum Showdown, zu Liebe und Tod. Architektur im Film ist eine starre, unbewegliche Hülle für Aktionen und Agierende.
Die Bewegungsdarstellung kann aus ästhetischen Gründen verlangen die Architektur im Film unscharf, oder unterbelichtet oder in Bewegungsunschärfe abzubilden, um dem Betrachter eine bessere Fokussierung auf die Bewegung zu ermöglichen. In diesen Bewegungsphasen wird das Dekor verschliffen und kann bis zur grafischen Unkenntlichkeit zerdehnt werden – eine buntes Band. In diesen Phasenbildern löst sich der Baukörper auf und wird zum Vorhang, dessen Unschärfe der Schärfe des Objektes als Fond dient. Im Verschleifen des Dekors bei der Bewegungsdarstellung löst sich die Körperlichkeit der Herberge auf. Architektur dient jetzt lediglich als virtuelles Band mit dem das Subjekt der Betrachtung geschmückt, umgürtet wird. Hier in der Auflösung von Raum wird das Dekor zum Kleid im bekannten Sinn als dritte Haut.
Architektur im Film dient also der Bewegung als Gehäuse und Hintergrund, sie dient aber ebenso der Blickbegrenzung. Der Blick des Zuschauers auf das laufende Bild sucht beständig nach Halt. Gewohnt – aus Furcht – zuerst auf das Bewegliche zu schauen, betrachtet er im zweiten Schauen die Begrenzung, das Unbewegliche. In einer weiten Totale heftet sich der Blick an den einzigen Baum, im Monument Valley an die bekannten Felsenformationen, auf See an das einzige weisse Segel.
Im Nahbereich sucht das Auge Gesichter, Hände, tastet die menschlichen Gliedmassen ab, orientiert sich an der Mitte und am hellsten Punkt. Erst im Verlauf der Einstellung gerät der Blick an die Ränder des Bildfeldes, betrachtet das begrenzende Dekor, die Umfassung des Zentrums im Hintergrund. Architektur im Film ist das Nichtloch hinter den agierenden Subjekten / Objekten, sie bettet den Blick, führt und leitet ihn immer wieder zurück auf das Wesentliche der Darstellung in ihrer Mitte. Architektur im Film wirft den Blick des Betrachters wie ein Echo zurück auf den Gegenstand seiner Aufmerksamkeit: den Protagonisten. Das Dekor einer Stadt dient dem Blick als Behausung und Führung zurück zur Beweglichkeit.
Der Film benötigt die Architektur als Herberge für Aktion und Resonanzfläche der Aufmerksamkeit. Die von Formen, Farben und Lichtintensität gereizten Zellen wandern über das Dekor und ruhen sich aus.
Architektur entbirgt hier ihre sozusagen akustische Kraft des Dekors, die der Film visuell nutzt. Architektur im Film wird so ausgesucht und gewählt, dass sie die ideale Umgebung, das perfekte Set zur Bewegung darstellt und den Blicken die richtige Resonanzfläche als visuelles Echo bietet.

Architektur dient der Proportion

Architektur im Film liefert Proportion. Ob ich eine Totale oder eine Naheinstellung wähle, im technischen Bild existieren immer nur Verhältnisse zwischen flachen, zweidimensionalen Körpern – Kreise, Quadrate und Rechtecke –, denen der Betrachter anhand von Grössenvergleich und Referenzpunkten räumliche Eigenschaften zumisst. Eine Türklinke, ein Türrahmen, ein Waschbecken, ein Flur, ein Fensterbrett oder Treppenstufen liefern Anhaltspunkte für Grössenverhältnisse und –vergleiche in Bezug auf die menschliche Proportion. Die stiftende Dominante ist der erwachsene Mensch, dessen Erfahrungen auch alle räumlichen Entscheidungen bestimmt. Als Spiegel realer Erfahrungen stiftet die Architektur im Film Massstäblichkeit, die filmische Darstellung per se benötigt. Weshalb?
Zum einen entsteht in der Erfahrung von Wirklichkeit dreidimensionales Sehen aus der binokularen Struktur beider Augen und ihres räumlichen Abstandes zueinander. Dem gegenüber steht die Einäugigkeit der filmischen Apparaturen. Der Film operiert somit immer mit der Fiktionalisierung von Raum, Raum ist per definitionem virtuell.
Zum anderen wird die Wirklichkeit im Abbild der Wirklichkeit auf ein 352 Quadratmillimeter grosses Feld reduziert (bei 35 mm Film = 22 x 16 mm), um anschliessend extrem vergrössert zu werden. Dieser Atem, diese technische Perspektive verlangt nach Halt und bekannten Parametern, an denen sich Erfahrung orientieren kann. Das Gehirn sucht Begründung und Vergleich, es verbraucht extrem viel Aufmerksamkeit = Aufnahmekapazität falls diese Suche nicht erfolgreich ist und Disproportionalität gewünscht ist.
Der Film operiert mit architektonischen Mustern, die keine Frage nach ihrem Woher? aufwerfen, keine Fragestellung mit sich führen, die den Betrachter aufhält. Erst in der zweiten, vielfachen Betrachtung werden diese Settings deutlich und führen zur Vertiefung der Lektüre, nicht selten zum eigentlichen Gehalt des Films. Auf das im wesentlichen retrospektive Dekor von Sci–Fi Filmen komme ich weiter unten zurück. Es sei hier nur gesagt, dass Wiedersehen Wohlbefinden und Gewissheit erzeugt.
Vor diesem Hintergrund ist es im Umkehrschluss nur verständlich, dass in reinen VR–Welten aus dem Rechner menschlich anmutende Avatare, Bäume und architektonische Dekors derart eingesetzt werden, dass den Vergrösserungsmöglichkeiten immer die gleichen Parameter zugrunde gelegt sind, denn auch hier herrscht eine von den Proportionen her anthropotopische Perspektive. Hier gäbe es die Möglichkeit eine Architektur zu entwerfen, die abgelöst von jeglicher Wirklichkeitsfolie existiert.
Architektur im Film stiftet Proportion, verheisst Halt und Augenmass, um Bewegungsrichtung, Tempo und Volumen einschätzen zu können. Der Architektur kommt die Rolle eines Konservators zu, eine unbewegliche Erinnerungsmaschine, die durch reine Anwesenheit zu evozieren weiss. Proportion als Erinnerung an die wirkliche Welt.

Architektur dient als topografisches Zeichen und Sozialisation

Die dritte Funktion und am meisten beachtete Aufgabe der Architektur im Film aber obliegt im Bergen der dramatis personae. Sie ist – wie im wirklichen Leben – Herberge und soziales Dekor seiner Protagonisten. Sie ist reich oder arm, opulent oder karg, öffentlich oder privat. Die Helden und Opfer leben und arbeiten dort und darin. Architektur im Film ist der Aufenthaltsort der Handlung und macht dies als gut und meist einfach lesbares Zeichen deutlich. Diese Zeichen – Stadt, Haus, Hütte, Palast – werden der Bewegungsdarstellung als Ort, Platz, Arena zugeordnet. Die Handlung erhält nicht nur optisch einen Hintergrund, der den Blick begrenzt, die Handlung wird durch die Architektur um stumme Erzähler ergänzt, die das Set bevölkern und vielstimmig einem Chor vergleichbar den Background bilden, der jenseits von Plot und Aktionen die Erzählung erweitert. Architektur im Film hat berichtende, erzählende Wirkung, die zum Zeichen reduziert geografische Details, Formen von Sozialisation und historische Komponenten liefert.
Architektur im Film in dieser Funktion wird gecastet, wie man Darsteller auswählt. Sie wird auf Wirkung und Funktion überprüft im Hinblick auf Licht, Form und Historie. Dabei wird sie schon in früh in der Planung bis hin zur Endfertigung segmentiert, zerteilt, zergliedert und umgenutzt. Genuine Funktionen werden ausgetauscht und etwas anderes eingebaut; eine störende Wand in der Nachbearbeitung retouchiert, der Himmel über der Stadt mit Häusern aufgefüllt aus einer anderen Perspektive. Jedes Detail existiert ausschliesslich zu einem einzigen Zweck: es muss der filmischen Erzählung zum Fortgang verhelfen.
Architektur im Film hat nur in Bezug auf den Film und seine Grammatik eine Funktion. Ihre Funktion und Bedeutung im Film erfüllt nur in Bezug auf ihre reproduktive Gestalt einen Sinn. Architektur im Film hat keine Funktion in der Wirklichkeit, sie ist ausschließlich Zeichen und Stellvertreter.
Der Aufgabe innerhalb der Wirklichkeit entledigt, hat die Architektur im Film ausschliesslich die Funktion Imagination auszulösen, eine Architektur zum Träumen. Architektur im Film stellt etwas vor und bietet Erinnerung, wo individuell keine vorliegt.
Architektur im Film sagt: Das ist so. Das war so.
Erzählendes Dekor ist beschriebene Umgebung. Architektur im Film liegt zu aller erst als Text vor, bevor sie zum Zeichen im Bild mutiert, gecastet oder im Studio aufgerichtet. Wie alles beim Film ist auch sie zuerst Wort.
Dabei unterliegen die Architektur im Film den gleichen Prämissen von Auswahl und Exklusivität wie alle anderen Teile der Filmherstellung. Man sucht das Aussergewöhnliche, originäre solitäre Ereignis, Objekt, Detail. Gebaute Architektur wird nach erzählerischen, visuellen und technischen Kriterien betrachtet. Im Zuge wachsenden Einsatzes von digitalem, virtuellem Dekor wird die abgebildete Architektur wie im Studio generell nur für den Moment der Belichtung gebraucht, sie kann anschliessend nicht mehr bereist werden. Manche Details werden sich möglicherweise in ein Filmmuseum retten können.
Der Film hinterlässt eine Stadt der Zeichen, die seiner subjektiven Fabel dienen, nicht den Wünschen ihrer Bewohner. Die Stadt mit den Augen der Autoren gesehen, lässt die meisten Gebäude, Strassen und Viertel unbeachtet. Für den Film existiert die Welt nur in Bezug auf ihre Wirkung, eine andere Perspektive fehlt, wie wohl Filme existieren, die andere Perspektiven entfalten.

Kleiner Kriterienkatalog für ein Gebäude mit Starallüren:
1. Sei extravagant und unverwechselbar.
2. Lasse dich oft fotografieren.
3. Erinnere irgendwie an andere berühmte Gebäude.
4. Lasse dich oft fotografieren.
5. Sei freundlich und offen zu Besuchern.
6. Deine Funktion ist Wirkung. Andere Funktionen sind zu vernachlässigen.
7. Lass dich oft fotografieren.
8. Wähle für Dein Äusseres Materialien, die Dich in Würde altern lassen.
9. Vergiss das Altern. Fotografie verspricht ewige Jugend.
10. Lass dich oft fotografieren.

Architektur dient der Fiktionalisierung

Architektur im Film existiert als ein Zeichen von Zeit, ein Körper im Prozess. Sie verweist auf eine objektive Zeit im historischen Sinne und transportiert die subjektive Zeit ihres Alterungsprozesses. Eine Architektur darf viel erlebt, sie kann wie ein alter Haudegen grosse Stürme abgeritten haben. Architektur kann Haupt– und Nebendarsteller sein. Sie erzählt durch ihr so–geworden–sein und steht mithin als das Zeichen eines historischen Dokuments. Wie ein Überbleibsel, Menetekel einer untergegangenen Epoche spricht sie und kündet im Heute vom Gestern.
Der Film sucht diese Zeitverweise, um sich mittels dieser Zeugen der Geschichte zu vergewissern, um sich in den Bezügen zur Wirklichkeit verorten zu können. Er benutzt Architektur im Bild zur Begründung von Zeit. Die filmische Fiktion gründet auf klaren Verabredungen zwischen Autor und Publikum und bedarf somit der Übertragung von Wirklichkeitszeichen als Verbindung des filmischen Bildes zur Wirklichkeit. Diese verbindliche Verankerung verlangt jede Fiktion, sonst kann sie als Erzählung in der Welt nicht existieren. Jedes Detail wird dabei auf seine Glaubwürdigkeit hin vom Publikum überprüft und je näher dekorative Elemente an die fiktive Biographie des Helden angelehnt werden, desto möglicher wirkt die Fiktion. Dem Dekor aus Wirklichkeit entspricht der Konjunktiv, die Möglichkeitsform innerhalb dessen, was als wahr und denkbar erachtet wird. Die erzählte Fabel wird einem virtuellen Ei gleich vor einem Nestdekor inszeniert, dessen Geflecht so viel Wirklichkeit wie irgend notwendig enthalten sollte. Das Dekor aus Wirklichkeit und Nähe als ästhetisches Feedback zeigt die Naht zwischen indikativischer Existenz des Publikums und konjunktivischer Fabel. Es suggeriert Sicherheiten und Relation.

Welche Rolle also spielt Architektur im Film?

Architektur im Film hat die Funktion Erinnerung zu produzieren. Architektur im Film dient der Vergewisserung von Welt, wie der Blick in den Spiegel zeigt, das der Betrachtende menschliche Züge trägt. Das architektonische Dekor ist mithin Rückblick, Echo, kurz: Vergangenheit, während die Fabel alle Züge vollkommener Möglichkeitsform, bis hin zur futuristischen Fiktion tragen kann.
Das Dekor ist – ob private oder öffentliche Architektur – in der kollektiven Biographie für alle zugänglich und verbindlich, während das einzelne Schicksal, besonders das fiktionale sich dieser Verbindlichkeit versagt. Nur in diesem realen Setting gedeiht der Satz: „Dies ist eine wahre Geschichte.“
Deutlich von hier aus, weshalb die futuristische Fabel im Dekor retrospektiv sein muss. Der U–Topos ist schwerer zu beschreiben als der U–Logos gesprochen wird. Dabei wäre der U–Logos ein Unwert, besser ein Nichts. Schweigen. Erst vor oder innerhalb bekannter Topoi – und seien es nur Versatzstücke – kann der Logos etabliert werden, der im bestehenden Topos vom U–Topos erzählt. Hier werden Wort– und Aktionsgebilde errichtet, keine Gebäude aus Stein. Architektur kann nicht Behauptung sein, sie will / muss Wirklichkeit werden und damit ist sie immer retrospektiv im Sinne konjunktivischen Erzählens.
Architektur im Film ist Herberge und Nahtstelle von der aus und aus der heraus gedacht, und gehandelt werden kann. In einer wirklichen Architektur kann Futur entwickelt werden und hierin entwickelt Architektur im Film ihre metaphysische Dimension:
Sie ist heute Ort von Morgen.

Martin Kreyssig, 2002


Gertrud, Johanna, Lothar, Jenny und Martin

Cover picture of the article by Xenia Taliotis, published in THE TELEGRAPH on 8 May 2021, © The Telegraph

Xenia Taliotis has written this article „The remarkable untold story of the German man who saved a Jewish widow from the Gestapo“ which highlights the story of both our Krausz and Kreyssig families, published in THE TELEGRAPH on 8 May 2021, on the occasion of the end of the war in Europe.

The story of Jenny’s grandmother Gertrud, who was hidden by my grandparents Johanna and Lothar Kreyssig on our farm in Hohenferchesar / Halvelsee between 1944 and 1945 and thus survived the Nazi regime. And the story of the third generation, of Jenny and me. Our friendship was initiated by our parents and is still alive today.