Film und Architektur – Architektur als Chor

Film und Architektur, Foto: @ 2010 Martin Kreyssig

Architektur im Film darf ihrer Funktion nach in vier Kategorien unterteilt werden:
1. Architektur dient der Bewegungsdarstellung
2. Architektur dient der Proportion.
3. Architektur dient als topografisches Zeichen und Sozialisation.
4. Architektur dient der Fiktionalisierung.

Architektur dient der Bewegungsdarstellung

Architektur – und ich unterscheide nicht zwischen der Location, dem Studiobau und dem Rechner gestützten, virtuellen Dekor – Architektur wird als festes, unbewegliches Bestandteil der filmischen Erzählung eingesetzt. Wie ein Baum steht, so gründet die Architektur im Boden. Um sie herum herrscht Bewegung, in ihrem Innern beherbergt die Architektur Bewegung.
Film ist a priori Bewegung – technisch betrachtet: der bewegte Filmstreifen, Rollen, Räder, Riemen – inhaltlich grenzt er sich von der älteren Fotografie durch die Möglichkeit der Bewegungsdarstellung ab. Der Regie gilt es als Aufgabe die Bewegung von Menschen und Objekten – Auto, Eisenbahn, Schiff und Flugzeug – vor einem unbeweglichen Dekor zur Geltung zu bringen. Die Bewegung selber wird erst deutlich durch die sie umgebende Unbeweglichkeit. Film hat also Bewegung zum Thema, benötigt aber Unbeweglichkeit zur Referenz und Bedingung. Wäre im Film alles in Bewegung, könnte das Auge das Wichtige vom Unwichtigen nicht unterscheiden. Wichtig für den Film ist der bewegliche, bewegte Mensch und das bewegte Objekt, dem Menschen Untertan. Architektur ist somit ein dreidimensionales Objekt vor dem und in dem sich etwas bewegt. Architektur ist Herberge und Hintergrund filmischer Bewegungszeichen. Architektur dient dem Status quo. Architektur ist in Bezug auf die Bewegungsdarstellung gefrorene Zeit – ein Freeze, ein dreidimensionales Standbild, ein Dekor, eine Kulisse in der Leben stattfindet. Dieses Leben bewegt sich hinein und heraus aus der statischen Kulisse, die Bewegung nutzt das Unbewegliche zum Aufenthalt, zur Rast, zum Showdown, zu Liebe und Tod. Architektur im Film ist eine starre, unbewegliche Hülle für Aktionen und Agierende.
Die Bewegungsdarstellung kann aus ästhetischen Gründen verlangen die Architektur im Film unscharf, oder unterbelichtet oder in Bewegungsunschärfe abzubilden, um dem Betrachter eine bessere Fokussierung auf die Bewegung zu ermöglichen. In diesen Bewegungsphasen wird das Dekor verschliffen und kann bis zur grafischen Unkenntlichkeit zerdehnt werden – eine buntes Band. In diesen Phasenbildern löst sich der Baukörper auf und wird zum Vorhang, dessen Unschärfe der Schärfe des Objektes als Fond dient. Im Verschleifen des Dekors bei der Bewegungsdarstellung löst sich die Körperlichkeit der Herberge auf. Architektur dient jetzt lediglich als virtuelles Band mit dem das Subjekt der Betrachtung geschmückt, umgürtet wird. Hier in der Auflösung von Raum wird das Dekor zum Kleid im bekannten Sinn als dritte Haut.
Architektur im Film dient also der Bewegung als Gehäuse und Hintergrund, sie dient aber ebenso der Blickbegrenzung. Der Blick des Zuschauers auf das laufende Bild sucht beständig nach Halt. Gewohnt – aus Furcht – zuerst auf das Bewegliche zu schauen, betrachtet er im zweiten Schauen die Begrenzung, das Unbewegliche. In einer weiten Totale heftet sich der Blick an den einzigen Baum, im Monument Valley an die bekannten Felsenformationen, auf See an das einzige weisse Segel.
Im Nahbereich sucht das Auge Gesichter, Hände, tastet die menschlichen Gliedmassen ab, orientiert sich an der Mitte und am hellsten Punkt. Erst im Verlauf der Einstellung gerät der Blick an die Ränder des Bildfeldes, betrachtet das begrenzende Dekor, die Umfassung des Zentrums im Hintergrund. Architektur im Film ist das Nichtloch hinter den agierenden Subjekten / Objekten, sie bettet den Blick, führt und leitet ihn immer wieder zurück auf das Wesentliche der Darstellung in ihrer Mitte. Architektur im Film wirft den Blick des Betrachters wie ein Echo zurück auf den Gegenstand seiner Aufmerksamkeit: den Protagonisten. Das Dekor einer Stadt dient dem Blick als Behausung und Führung zurück zur Beweglichkeit.
Der Film benötigt die Architektur als Herberge für Aktion und Resonanzfläche der Aufmerksamkeit. Die von Formen, Farben und Lichtintensität gereizten Zellen wandern über das Dekor und ruhen sich aus.
Architektur entbirgt hier ihre sozusagen akustische Kraft des Dekors, die der Film visuell nutzt. Architektur im Film wird so ausgesucht und gewählt, dass sie die ideale Umgebung, das perfekte Set zur Bewegung darstellt und den Blicken die richtige Resonanzfläche als visuelles Echo bietet.

Architektur dient der Proportion

Architektur im Film liefert Proportion. Ob ich eine Totale oder eine Naheinstellung wähle, im technischen Bild existieren immer nur Verhältnisse zwischen flachen, zweidimensionalen Körpern – Kreise, Quadrate und Rechtecke –, denen der Betrachter anhand von Grössenvergleich und Referenzpunkten räumliche Eigenschaften zumisst. Eine Türklinke, ein Türrahmen, ein Waschbecken, ein Flur, ein Fensterbrett oder Treppenstufen liefern Anhaltspunkte für Grössenverhältnisse und –vergleiche in Bezug auf die menschliche Proportion. Die stiftende Dominante ist der erwachsene Mensch, dessen Erfahrungen auch alle räumlichen Entscheidungen bestimmt. Als Spiegel realer Erfahrungen stiftet die Architektur im Film Massstäblichkeit, die filmische Darstellung per se benötigt. Weshalb?
Zum einen entsteht in der Erfahrung von Wirklichkeit dreidimensionales Sehen aus der binokularen Struktur beider Augen und ihres räumlichen Abstandes zueinander. Dem gegenüber steht die Einäugigkeit der filmischen Apparaturen. Der Film operiert somit immer mit der Fiktionalisierung von Raum, Raum ist per definitionem virtuell.
Zum anderen wird die Wirklichkeit im Abbild der Wirklichkeit auf ein 352 Quadratmillimeter grosses Feld reduziert (bei 35 mm Film = 22 x 16 mm), um anschliessend extrem vergrössert zu werden. Dieser Atem, diese technische Perspektive verlangt nach Halt und bekannten Parametern, an denen sich Erfahrung orientieren kann. Das Gehirn sucht Begründung und Vergleich, es verbraucht extrem viel Aufmerksamkeit = Aufnahmekapazität falls diese Suche nicht erfolgreich ist und Disproportionalität gewünscht ist.
Der Film operiert mit architektonischen Mustern, die keine Frage nach ihrem Woher? aufwerfen, keine Fragestellung mit sich führen, die den Betrachter aufhält. Erst in der zweiten, vielfachen Betrachtung werden diese Settings deutlich und führen zur Vertiefung der Lektüre, nicht selten zum eigentlichen Gehalt des Films. Auf das im wesentlichen retrospektive Dekor von Sci–Fi Filmen komme ich weiter unten zurück. Es sei hier nur gesagt, dass Wiedersehen Wohlbefinden und Gewissheit erzeugt.
Vor diesem Hintergrund ist es im Umkehrschluss nur verständlich, dass in reinen VR–Welten aus dem Rechner menschlich anmutende Avatare, Bäume und architektonische Dekors derart eingesetzt werden, dass den Vergrösserungsmöglichkeiten immer die gleichen Parameter zugrunde gelegt sind, denn auch hier herrscht eine von den Proportionen her anthropotopische Perspektive. Hier gäbe es die Möglichkeit eine Architektur zu entwerfen, die abgelöst von jeglicher Wirklichkeitsfolie existiert.
Architektur im Film stiftet Proportion, verheisst Halt und Augenmass, um Bewegungsrichtung, Tempo und Volumen einschätzen zu können. Der Architektur kommt die Rolle eines Konservators zu, eine unbewegliche Erinnerungsmaschine, die durch reine Anwesenheit zu evozieren weiss. Proportion als Erinnerung an die wirkliche Welt.

Architektur dient als topografisches Zeichen und Sozialisation

Die dritte Funktion und am meisten beachtete Aufgabe der Architektur im Film aber obliegt im Bergen der dramatis personae. Sie ist – wie im wirklichen Leben – Herberge und soziales Dekor seiner Protagonisten. Sie ist reich oder arm, opulent oder karg, öffentlich oder privat. Die Helden und Opfer leben und arbeiten dort und darin. Architektur im Film ist der Aufenthaltsort der Handlung und macht dies als gut und meist einfach lesbares Zeichen deutlich. Diese Zeichen – Stadt, Haus, Hütte, Palast – werden der Bewegungsdarstellung als Ort, Platz, Arena zugeordnet. Die Handlung erhält nicht nur optisch einen Hintergrund, der den Blick begrenzt, die Handlung wird durch die Architektur um stumme Erzähler ergänzt, die das Set bevölkern und vielstimmig einem Chor vergleichbar den Background bilden, der jenseits von Plot und Aktionen die Erzählung erweitert. Architektur im Film hat berichtende, erzählende Wirkung, die zum Zeichen reduziert geografische Details, Formen von Sozialisation und historische Komponenten liefert.
Architektur im Film in dieser Funktion wird gecastet, wie man Darsteller auswählt. Sie wird auf Wirkung und Funktion überprüft im Hinblick auf Licht, Form und Historie. Dabei wird sie schon in früh in der Planung bis hin zur Endfertigung segmentiert, zerteilt, zergliedert und umgenutzt. Genuine Funktionen werden ausgetauscht und etwas anderes eingebaut; eine störende Wand in der Nachbearbeitung retouchiert, der Himmel über der Stadt mit Häusern aufgefüllt aus einer anderen Perspektive. Jedes Detail existiert ausschliesslich zu einem einzigen Zweck: es muss der filmischen Erzählung zum Fortgang verhelfen.
Architektur im Film hat nur in Bezug auf den Film und seine Grammatik eine Funktion. Ihre Funktion und Bedeutung im Film erfüllt nur in Bezug auf ihre reproduktive Gestalt einen Sinn. Architektur im Film hat keine Funktion in der Wirklichkeit, sie ist ausschließlich Zeichen und Stellvertreter.
Der Aufgabe innerhalb der Wirklichkeit entledigt, hat die Architektur im Film ausschliesslich die Funktion Imagination auszulösen, eine Architektur zum Träumen. Architektur im Film stellt etwas vor und bietet Erinnerung, wo individuell keine vorliegt.
Architektur im Film sagt: Das ist so. Das war so.
Erzählendes Dekor ist beschriebene Umgebung. Architektur im Film liegt zu aller erst als Text vor, bevor sie zum Zeichen im Bild mutiert, gecastet oder im Studio aufgerichtet. Wie alles beim Film ist auch sie zuerst Wort.
Dabei unterliegen die Architektur im Film den gleichen Prämissen von Auswahl und Exklusivität wie alle anderen Teile der Filmherstellung. Man sucht das Aussergewöhnliche, originäre solitäre Ereignis, Objekt, Detail. Gebaute Architektur wird nach erzählerischen, visuellen und technischen Kriterien betrachtet. Im Zuge wachsenden Einsatzes von digitalem, virtuellem Dekor wird die abgebildete Architektur wie im Studio generell nur für den Moment der Belichtung gebraucht, sie kann anschliessend nicht mehr bereist werden. Manche Details werden sich möglicherweise in ein Filmmuseum retten können.
Der Film hinterlässt eine Stadt der Zeichen, die seiner subjektiven Fabel dienen, nicht den Wünschen ihrer Bewohner. Die Stadt mit den Augen der Autoren gesehen, lässt die meisten Gebäude, Strassen und Viertel unbeachtet. Für den Film existiert die Welt nur in Bezug auf ihre Wirkung, eine andere Perspektive fehlt, wie wohl Filme existieren, die andere Perspektiven entfalten.

Kleiner Kriterienkatalog für ein Gebäude mit Starallüren:
1. Sei extravagant und unverwechselbar.
2. Lasse dich oft fotografieren.
3. Erinnere irgendwie an andere berühmte Gebäude.
4. Lasse dich oft fotografieren.
5. Sei freundlich und offen zu Besuchern.
6. Deine Funktion ist Wirkung. Andere Funktionen sind zu vernachlässigen.
7. Lass dich oft fotografieren.
8. Wähle für Dein Äusseres Materialien, die Dich in Würde altern lassen.
9. Vergiss das Altern. Fotografie verspricht ewige Jugend.
10. Lass dich oft fotografieren.

Architektur dient der Fiktionalisierung

Architektur im Film existiert als ein Zeichen von Zeit, ein Körper im Prozess. Sie verweist auf eine objektive Zeit im historischen Sinne und transportiert die subjektive Zeit ihres Alterungsprozesses. Eine Architektur darf viel erlebt, sie kann wie ein alter Haudegen grosse Stürme abgeritten haben. Architektur kann Haupt– und Nebendarsteller sein. Sie erzählt durch ihr so–geworden–sein und steht mithin als das Zeichen eines historischen Dokuments. Wie ein Überbleibsel, Menetekel einer untergegangenen Epoche spricht sie und kündet im Heute vom Gestern.
Der Film sucht diese Zeitverweise, um sich mittels dieser Zeugen der Geschichte zu vergewissern, um sich in den Bezügen zur Wirklichkeit verorten zu können. Er benutzt Architektur im Bild zur Begründung von Zeit. Die filmische Fiktion gründet auf klaren Verabredungen zwischen Autor und Publikum und bedarf somit der Übertragung von Wirklichkeitszeichen als Verbindung des filmischen Bildes zur Wirklichkeit. Diese verbindliche Verankerung verlangt jede Fiktion, sonst kann sie als Erzählung in der Welt nicht existieren. Jedes Detail wird dabei auf seine Glaubwürdigkeit hin vom Publikum überprüft und je näher dekorative Elemente an die fiktive Biographie des Helden angelehnt werden, desto möglicher wirkt die Fiktion. Dem Dekor aus Wirklichkeit entspricht der Konjunktiv, die Möglichkeitsform innerhalb dessen, was als wahr und denkbar erachtet wird. Die erzählte Fabel wird einem virtuellen Ei gleich vor einem Nestdekor inszeniert, dessen Geflecht so viel Wirklichkeit wie irgend notwendig enthalten sollte. Das Dekor aus Wirklichkeit und Nähe als ästhetisches Feedback zeigt die Naht zwischen indikativischer Existenz des Publikums und konjunktivischer Fabel. Es suggeriert Sicherheiten und Relation.

Welche Rolle also spielt Architektur im Film?

Architektur im Film hat die Funktion Erinnerung zu produzieren. Architektur im Film dient der Vergewisserung von Welt, wie der Blick in den Spiegel zeigt, das der Betrachtende menschliche Züge trägt. Das architektonische Dekor ist mithin Rückblick, Echo, kurz: Vergangenheit, während die Fabel alle Züge vollkommener Möglichkeitsform, bis hin zur futuristischen Fiktion tragen kann.
Das Dekor ist – ob private oder öffentliche Architektur – in der kollektiven Biographie für alle zugänglich und verbindlich, während das einzelne Schicksal, besonders das fiktionale sich dieser Verbindlichkeit versagt. Nur in diesem realen Setting gedeiht der Satz: „Dies ist eine wahre Geschichte.“
Deutlich von hier aus, weshalb die futuristische Fabel im Dekor retrospektiv sein muss. Der U–Topos ist schwerer zu beschreiben als der U–Logos gesprochen wird. Dabei wäre der U–Logos ein Unwert, besser ein Nichts. Schweigen. Erst vor oder innerhalb bekannter Topoi – und seien es nur Versatzstücke – kann der Logos etabliert werden, der im bestehenden Topos vom U–Topos erzählt. Hier werden Wort– und Aktionsgebilde errichtet, keine Gebäude aus Stein. Architektur kann nicht Behauptung sein, sie will / muss Wirklichkeit werden und damit ist sie immer retrospektiv im Sinne konjunktivischen Erzählens.
Architektur im Film ist Herberge und Nahtstelle von der aus und aus der heraus gedacht, und gehandelt werden kann. In einer wirklichen Architektur kann Futur entwickelt werden und hierin entwickelt Architektur im Film ihre metaphysische Dimension:
Sie ist heute Ort von Morgen.

Martin Kreyssig, 2002


Gertrud, Johanna, Lothar, Jenny und Martin

Cover picture of the article by Xenia Taliotis, published in THE TELEGRAPH on 8 May 2021, © The Telegraph

Xenia Taliotis has written this article „The remarkable untold story of the German man who saved a Jewish widow from the Gestapo“ which highlights the story of both our Krausz and Kreyssig families, published in THE TELEGRAPH on 8 May 2021, on the occasion of the end of the war in Europe.

The story of Jenny’s grandmother Gertrud, who was hidden by my grandparents Johanna and Lothar Kreyssig on our farm in Hohenferchesar / Halvelsee between 1944 and 1945 and thus survived the Nazi regime. And the story of the third generation, of Jenny and me. Our friendship was initiated by our parents and is still alive today.

Im Park

Titelgrafik "Im Park"

„Zuerst muss man fähig sein zu bewundern.“ Gilles Deleuze

„Im Park“ ist ein szenischer Essay von Martin Kreyssig.

Daraus einige Szenen:

Die Welt im Park erscheint dem kritischen Betrachter mal als Klinik, mal als Bergwerk, wie man es aus Museen kennt, mal als Galerie, manchmal wie ein Paradies. Nicht selten, und die Begriffe fallen mit den Eindrücken zusammen.

 

EVER NEVER. Langsamer Monolog aus zwei Worten, in deutscher Diktion gesprochen, zu Beginn normal schnell, die Worte getrennt, dann zunehmend zu einem Wort verschmelzend, im letzte Schritt nur noch die E-Laute vernehmbar, das Knochengerüst der Konsonanten zermahlen: EEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEE.

 

Die Geographie des Parks ist Seelenkunde, Ermittlung und Anleitung.

 

An der Simon- oder Goldbergsäule lauscht man einer akustischen Installation. Hier wird in zweiunddreissig Variationen der Satz gesprochen: Wo ist der Punkt?

 

Von aussen nimmt man das viereckige und fensterlose Gebäude aus Klinkersteinen im Gelände kaum wahr. Betritt man den Innenhof durch den einzigen Eingang von Norden her, steht man inmitten von vier Tempelfassaden aus griechischer Vorzeit. Die Aussenwände des Tempels nach innen geklappt, lassen sich drei monumentale Wandstücke gleichzeitig betrachten. Der Tempel als Bühnenbild.

 

Es liessen sich Liebesgeschichten, Biografien, Heldenreisen, Dramen und Abenteuer vorstellen. Könnten hier Begegnungen, glückliche und empfindsame Momente, wahre oder unwahre Begebenheiten inszeniert werden? Wäre hier der Ort, Gesichter zu sehen, Worte zu hören, deren Anmut, Härte oder Ironie den Park in seiner Wirkung zurücktreten und als Hintergrundrauschen verblassen liessen? Wäre eine Stück Leben wie ein Teil der Wirklichkeit zu entdecken, wie verhielte sich die virtuelle Wirklichkeit des Parks dazu? Und platzierte man hier pralles Leben wie einen nackten Schrei – wäre davon zu hören?

Der Park ist nichts, vielleicht eine Unruhe, ein Zittern.

 

Den Landkartenraum betritt man auf dessen umlaufender Galerie. Aus grosser Höhe sieht man auf den Park als Ganzes im Maßstab 1:1. Hier lässt sich das Paradox in seiner ursprünglichen Schönheit genießen.

 

Im Echosaal lauscht man den Stimmen vergangener Jahrhunderte. Das schneckenförmig gedrehte Gewölbe zeigt an seiner Kassettendecke Portraits aller an diesem Bauwerk beteiligten Handwerker. Athanasius Kircher spricht vom Bandrekorder Krapp’s Last Tape. Weltaneignung im Dialog mit Echoapparaten: Quellen sprudelnder Spiegelbilder und Totenmasken.

 

Der Park zeigt eine Ausstellung der Eitelkeiten, eine Messe neuster Moden. Nach wenigen Tagen ist alles vergessen, der Rollrasen im Schrank, die Garagentore geschlossen. Erwartungsvolle Stille vor dem nächsten Gig. Vorhang.

4:3 – Beckett im Quadrat – Inszenierungen für das Fernsehen

Einladungskarte Westwerk

4:3 – Beckett im Quadrat – Inszenierungen für das Fernsehen
Eine Programmübersicht von Martin Kreyßig

Gehalten am 2. Juni 2017

Samuel Becketts (1906-1989) televisions plays sind hoch formalisierte Inszenierungen, die das Medium Fernsehen und das Genre Fernsehspiel mit einem Minimum an Narration an seine Grenzen führen.

Am Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart konnte Beckett zwischen 1966 und 1986 sechs Stücke realisieren. Die Mittel des Fernsehens auf wesentliche Aussagen reduziert – Aufbau und Ablauf der Choreographien erinnern an naturwissenschaftliche Versuche – konzentrieren sich die Arbeiten auf den Körper und die Aufzeichnung der Handlungen ohne technische Finessen: Stimme, Schweigen, Verschwinden. Sämtliche Fragmente erzeugen mit ihrer Kombinatorik eine Geometrie des Rituals, ein musikalisches Ritornell.

Der französische Philosoph Gilles Deleuze hält in seinem Essay „Erschöpft“ (1992) diese Fernseharbeiten für die Essenz der Entwicklung des Dichters, Dramatikers und Nobelpreisträgers: „Es ist, als ob man gleichzeitig ein Hörspiel und einen Stummfilm vorführte.“

Der Vortrag bietet eine Programmübersicht über das filmische Werk von S. Beckett, zeigt Ausschnitte und verknüpft die Arbeiten mit künstlerischen Positionen seiner Zeit.

Amerika von Carsten Rabe als Filmessay

aus "Amerika" von Carsten Rabe (c) Carsten Rabe

Gerade erschienen:

Carsten Rabe: »Amerika«

97 Abbildungen

205 x 275 mm, 184 Seiten

Mit Texten von Nina Lucia Groß und Martin Kreyßig

ISBN: 978-3-86485-184-1

Textem Verlag, Hamburg 2017, 39 Euro

 

Pressetext:

Keine der Fotografien im Fotobuch »Amerika« wurde in Amerika fotografiert. Die Betrachter erfahren nicht, wo diese Bilder entstanden sind. Ort und Datum gelten als wesentliche Indikatoren im Medium der dokumentarischen Fotografie, aber in »Amerika« werden keine Dokumente gezeigt. Die Herkunft der Fotos, Ort und Zeit ihrer Herstellung sind bedeutungslos. Der indexikalische Charakter von Fotografien wird verweigert. Entscheidend ist für Rabe der Bilderzyklus, die Reihenfolge, die Montage und Erzählung der Inhalte mit ihren visuellen Strukturen wie Kontrast, Rhythmus, Farbigkeit und Perspektive.

Die Fotografien schweben in einem Illusionsraum, der Geografie und Zeitdimension neu definiert. Die Betrachter verorten die Fotografien in Raum und Zeit unter der Headline Amerika. In geteilter Autorschaft öffnet das erzählerische Verfahren von Carsten Rabe den Betrachtern die Möglichkeit, die fotografierte Lektüre mit ihren erinnerten Bildern eines imaginären wie realistischen Amerika in Übereinstimmung zu bringen. Amerika setzt sich bei der Betrachtung der Fotografien zu einer Realität zusammen, die nicht existiert. Die Betrachter werden mittels der Fotografien nicht über Amerika informiert, sondern sondieren den Zusammenhang zwischen erinnerten Amerikabildern oder Bildern, die sie Amerika zuschreiben, und den Amerikabildern von Rabe, die Amerika inszenieren.

Mit den Fotografien zeigt Carsten Rabe etwas. Er benennt das Gezeigte mit dem Titel Amerika und versieht es mit einer artifiziellen Spur. Wir, die Betrachter, sehen alles im Buch »Amerika« Gezeigte als Spur eines Amerika. Die Spuren finden sich aber nicht auf den gezeigten Fotografien, sondern in unseren Erinnerungen von Gezeigtem aus anderen artifiziellen Zusammenhängen oder in Erinnerungen, die wir von Reisen nach Amerika mitgebracht haben. Die Erzählung und Bildfolge Amerika besteht aus Als-ob und Als-wäre. Das lässt den Mythos einmal mehr magisch leuchten. Amerika bleibt Amerika.