Festrede von Prof. Martin Kreyßig anlässlich der feierlichen Verabschiedung der Absolventinnen und Absolventen am Fachbereich Automatisierung und Informatik der Hochschule Harz in Wernigerode am 25.11.2022
Liebe Absolventinnen und Absolventen, liebe Eltern und Freunde, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Anlässlich der Verabschiedung der Absolventinnen und Absolventen von der Hochschule Harz kommt mir die Freude zu, eine Rede zu halten. Thema? Zukunft.
Zukunft nennen wir die Zeit, die auf der linearen Zeitachse vor uns liegt. Der deutsche Begriff leitet sich aus dem Verb „zu-kommen“ ab, meint also, das auf uns Zukommende. Andere europäische Sprachen nennen diese Zeit ‚Future‘ oder ’futuro‘. Der Begriff leitet sich aus dem Lateinischen ‚futurum‘ ab und bedeutet: „was sein wird“.
Spannend klingt auch die altgriechische Variante, hier interpretiert der Begriff [to loipon] Zukunft als „Rest“ der Zeit.
Die Sache mit der Zeit ist nicht einfach. Wie kann die Zeit einerseits wie ein Pfeil fliegen, während sie sich auf der Armbanduhr im Kreis bewegt?
Das Ziffernblatt erzählt von zyklischer Zeit. Hier kommt die Zeit daher wie die Jahreszeiten, der zu- und abnehmende Mond, ein Loop in der Musik – Ereignisse, die sich regelmäßig wiederholen.
Uhren oder der heute noch gültige gregorianische Kalender aus dem 16. Jahrhundert, Kirchenglocken, die zur Messe rufen, die Tagesschau oder Serien – sind programmierte Kreisläufe, die dem Publikum einen sicheren Rhythmus bieten. Die sogenannte Programmzeit vermittelt uns Gewissheit über erwartbare Ereignisse. Die Vorlesungen beginnen um 8 Uhr und dauern 90 Minuten. Zukunft ist planbar.
Das Internet kennt keine Programmzeit. Die Nutzer:innen agieren asymmetrisch. Angebote und Suche treffen irgendwann aufeinander oder nicht. Das Internet ist ein Raum mit unendlich vielen vernetzten Gleichzeitigkeiten.
Die Grundgesetze der Thermodynamik und der Quantenmechanik lehren, Stichwort: Relativität, dass die Zeit abhängig vom Punkt der Beobachtung in keiner Weise gerichtet verläuft. Denn die Gravitationswirkung großer Massen beeinflusst die Zeit.
So arbeiten die Wissenschaften mit zwei Modellen:
Das eindimensionale lineare, empirische Modell interpretiert Zeit als subjektives Erleben, nennen wir es »Fluss der Zeit« mit den Relationen früher/später.
Das andere, kosmologische Modell eines expandierenden Universums sieht Zeit als eine relative Konstante. Achten Sie am 10. Dezember einmal darauf, für welche Leistungen drei Forscher mit dem diesjährigen Nobelpreis für Physik geehrt werden. Stichwort: Quantencomputer.
Schauen wir in die Sterne. Bereits vor 2.500 Jahren deuteten griechische Philosophen die Perioden der kosmischen Bewegungen am Sternenhimmel als ein Zeichen der Unendlichkeit der Welt. Noch davor versteckte sich für Babylonier und Ägypter in Astronomie und Astrologie eine Art Zukunftswissen. Die Zukunft wurde von Propheten, Orakeln und Druiden interpretiert, sie stellten Prognosen für die Zukunft.
Seit jeher machen sich Menschen Sorgen um das auf sie Zu-kommende. Wie werden wir in zehn Jahren leben? Bleiben wir gesund? Steht die Welt schon bald in Flammen? Und seit jeher werden Antworten auf diese Fragen angeboten.
Zukunft als Schicksal?
Wenn wir die Sterne betrachten, schauen wir tief in die Vergangenheit, denn das Licht braucht eine sehr lange Zeit, bis es uns erreicht. Um die Raumgröße zu verstehen, vergleichen wir zwei Zahlen unterschiedlicher Einheiten: Das Licht benötigt von der Sonne zur Erde etwa 8,5 Minuten. Das Licht von dem uns nächst gelegenen Stern Proxima Centauri benötigt zur Erde etwa 4,3 Lichtjahre. Astrophysiker schauen in die Vergangenheit und stellen Annahmen auf, welche Zukunft die Vergangenheit erwartet.
Wir sind es mithin gewohnt zurückzublicken, um die Zukunft besser zu verstehen. Wir sollten nicht in die Zukunft gehen, ohne Gegenwart und Vergangenheit studiert zu haben. Die Zukunft lässt sich nicht ohne das Verständnis der Vergangenheit gestalten. Wir müssen wissen, woher wir kommen, um zu verstehen, wohin wir gehen.
Zukunft ohne Geschichte?
Für Studierende ist es manchmal langweilig, weil die Frauen und Männer da vorne am Pult im Hörsaal, die immerzu sprechen, scheinbar alles besser wissen. Sie teilen ihr Wissen, ihre Erfahrungen den Jüngeren mit. Dafür wurden Schulen und Universitäten gegründet. Es sind Wissensspeicher. Zukünftige Wege basieren auf Erfahrungen und Kenntnissen.
Jedes universitäre Fach betreibt Zukunftsforschung, in sämtlichen Wissenschaften werden Prognosen entwickelt und diskutiert. Wir schreiben Trendanalysen mit explanativen Methoden, versuchen mittels Stochastik die Zukunft vorherzusagen. Strukturanalysen, Szenarien, Simulationen sollen Licht ins Dunkel tragen, sollen nachvollziehbare Fundamente für unsere Entscheidungen schaffen. Objektive Entscheidungen für langfristige Strategien.
All diese Verfahren möchte ich Projektionstechniken nennen. Die Herkunft des Begriffs »projizieren« meint: »vorwärtswerfen, hervortreten lassen«.
In Platons Höhlengleichnis wird dem Publikum ein Schattenspiel projiziert. Das Kino nutzt den Projektor als Bilderwerfer.
Ein studentisches Projekt z.B. ist ein in die Zukunft projiziertes, zeitlich begrenztes Vorhaben. Ein Projekt schiebt sich Schritt-für-Schritt aus der Gegenwart hinein in die Zukunft. In Projekten »entwerfen wir aus Möglichkeiten Wirklichkeiten« [V. Flusser: Digitaler Schein, 1991].
Zukunft als Fortschritt?
Der russische [sowjetische] Spielfilm „Stalker“ von Andrej Tarkowskij ist eine Reise zu einem Zimmer, der »Rückblick auf eine Zukunftsvision«. Stalker, die Hauptfigur, Kundschafter und Reiseführer, wirft Schraubenmuttern mit weißen Mullbinden bebändert als Wegmarkierungen. Er sucht mit seinen zufälligen Würfen eine Route – weil es keinen Weg gibt. Seine Wurfgeschosse funktionieren als Projektile, sie entwerfen eine Richtung, der die drei Figuren des Films nach-gehen. So tastet sich die Gruppe bis ins Innere einer menschenleeren Gegend vor und erkundet deren rätselhaften, paradoxen Erscheinungen.
Zukunft als Traum?
Zukunft meint Projektion und Zukunft meint Exploration. Für die Reise ins Unbekannte rüsten wir uns mit Wissen aus Gegenwart und Vergangenheit. Wir haben kein anderes Gepäck. Wir können nur ausprobieren, scheitern, erneut versuchen, und lernen. All unser Handeln ist davon geprägt, die Zukunft in kleinen Schritten zu betreten.
Dabei wird auch heutzutage die Zukunft von »Seherinnen und Sehern« gedeutet. Sterndeuter, Kaiser und Könige, Theologen, Päpste, Philosophen und Politiker, Futurologen, Wahrsagern und Verfasser von Horoskopen.
Seit Thomas Morus 1516 das Werk „Vom besten Zustand des Staates und über die neue Insel Utopia“ veröffentlicht hat, gehören auch die Künstler:innen zu den Propheten. Eine Utopie, altgriechisch U-topos, ein Nirgendsland ist eine Projektion, um die Gegenwart zu kritisieren. Schriftsteller:innen greifen zur Utopie, wenn ihnen für die Wahrheit Gefängnis oder der Tod droht. Also projizieren sie aus ihrer bedrückenden Gegenwart eine fern gelegene Insel, auf der ein idealer Zustand menschlichen Zusammenlebens konstruiert ist.
Zukunft als Utopie?
Der amerikanische Spielfilm „Soylent Green“ von Richard Fleischer aus dem Jahr 1972 trägt den deutschen Titel: »… Jahr 2022 … die überleben wollen«. Das New York des Jahres 2022 ist kein wirklich freundliches Utopia, eher die dystopische Umkehrung. Ich werde das Ende nicht spoilern, doch soviel sei gesagt:
Sämtliche Zukunftsstudien, ob „Die Grenzen des Wachstums“ für den ‚Club of Rome‘ 1972, der Bericht der ‚Nord-Süd-Kommission‘ oder „Global 2000“ stecken im Drehbuch schon drin. Der Film lohnt sich, projiziert er doch die Sorgen, Ängste und Befürchtungen aus den 1970er Jahren um 50 Jahre in die Zukunft, in unsere Gegenwart, das Jahr 2022.
Zukunft als Katastrophe?
Zukunft ist ein flüchtiger, auch ein dramatischer Stoff, mit dem wir uns recht quälen. In den Wissenschaften, in Parlamenten und am Küchentisch stellen wir uns die Zukunft vor. Wir entwerfen von ihr ein vages Bild. Sobald wir eine Ahnung oder Meinung zur Zukunft haben, antizipieren wir sie, versuchen uns ihr anzupassen, wie man sich in eine zu eng geschnittene Jacke zwängt. Oder wir lehnen uns gegen diese Zukunft auf, verweigern uns prophetischen Vorhersagen, lehnen wissenschaftlich belegte Ergebnisse ab.
Zukunft als »blühende Landschaften«?
Vor uns steht ein bis zur Hälfte geleertes Wasserglas. Die erste Hälfte haben wir getrunken, der Körper fühlt sich wohl. Ist das Wasserglas halbvoll oder halbleer?
Einige tendieren dazu, das Glas als halbvoll zu betrachten. Sie freuen sich auf die zweite Hälfte, die sie gleich trinken werden. Hey, immerhin ein halbvolles Glas!
Andere betrachten die Situation weniger entspannt. Ein halbleeres Glas deutet augenscheinlich darauf hin, dass auch die zweite Hälfte bald ausgetrunken sein wird.
Helle oder dunkle Zukunft?
Ich zitiere gerne den Dramatiker Heiner Müller mit seinem prophetischen Satz: »Optimismus ist Mangel an Information.«
Das zukünftige Dunkel hält alle Antworten in den Händen. Die Zukunft besteht ausschließlich aus Informationen, die wir nicht kennen.
Sie offenbart sich nur scheibchenweise. Und darüber sind wir ein kleinwenig beleidigt. Die Zukunft ist eine eitle, hochnäsige, arrogante Figur. Statt einfach zu sagen, was morgen abgeht, schweigt sie.
Was bleibt uns? Wir träumen, wir hoffen. Wir malen uns eine Zukunft aus.
Aber steuern nicht wir das Schiff der Zivilisation? Sind nicht wir für unsere Handlungen selbst verantwortlich? Drei Beispiele:
- Wir wissen, dass schwach- und mittelradioaktive Abfälle nach 500 Jahren nicht gefährlicher sind als Phosphatdünger. Nach rund 30.000 Jahren haben sie die gleiche strahlungsbedingte Giftigkeit wie Granitgestein. Na also, geht doch. Klare Prognose! Welche Schlüsse ziehen wir daraus? Welche Entscheidungen fällen wir für die nachfolgenden Generationen?
- Meine Studierenden haben einen wunderschönen Kurzfilm gedreht. In einer Szene tanzt eine Plastiktüte im Wind. Wir wissen, dass Micropartikel dieser Plastiktüte noch in 450 Jahren tanzen – im Ozean. Die anderen bunten Partikelchen haben sich in unseren Ur-ur-ur-enkeln eingelagert. Reines Zukunftswissen.
- 8 Milliarden Menschen leben nun auf der Erde. Was für eine Herausforderung! Aber, und ich zitiere Frank Swiaczny, Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Demographie. [Zitat: Tagesspiegel, 14.11.2022, S. 2]: »Das Problem ist nicht Überbevölkerung, sondern Überkonsum.«
Liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen, wir wissen einiges über die Zukunft. Und wir können sie durch unser Verhalten beeinflussen, jeder einzelne von uns.
Zukunft ist, was wir daraus machen.
Gegenwärtig erleben wir in unserem europäischen Haus wie die nähere Zukunft durch böse machthungrige Männer vergiftet wird, so dass wir umdenken und anders planen müssen. Wir gestalten die Situation, und in gewisser Weise passen wir uns an. Und in Anpassungsleistungen ist der Mensch gut trainiert, auch wenn diese Anpassungsprozesse langsam ablaufen. In jeder neuen gesellschaftspolitischen Situation versuchen wir in einem veränderten, sich beständig verändernden Habitat unseren Platz zu finden.
Zukunft als Egoismus?
Nach diesem Festakt, liebe Studierende, werden Sie als Absolvent:innen in die Welt ziehen und diese Welt verändern. Sie werden die Zukunft verändern. Ich hoffe, Sie werden klug und gewissenhaft, kollaborativ und solidarisch handeln, und machen diese Welt, unser Gemeinwesen mit ihrem Engagement ein Stückchen besser, friedlicher, bewohnbarer.
Dazu sollten Sie einander gut zuhören und miteinander sprechen.
Ich möchte Sie ermutigen, Ihre Meinung immer mit Courage zu vertreten, dabei offen, flexibel zu sein, besonders, um in Krisen und Konflikten Kompromisse zu finden. Das heißt, Sie werden immer wieder von einer projizierten Richtung abweichen müssen, um im Konsens mit anderen eine gemeinsame neue Richtung zu finden. Dabei helfen Ihnen Modelle, Projektionen, Simulationen – Wissen hilft.
Wir projizieren Ahnungen, Annahmen, Träume, Möglichkeiten, wir projizieren unser Wissen in die Zukunft. Gleichzeitig – und ich möchte das betonen – legt sich die Zukunft wie von selbst, wie ein Mantel um die Schultern: Ein ewig neuer Stoff aus Freude, Glück, Liebe und wundersamen Überraschungen.
Der Filmregisseur Werner Herzog hat gerade seine Memoiren vorgelegt. Herzog hat u.a. „Fitzcarraldo“ mit Klaus Kinski, oder „Grizzly Man“ gedreht. Er ist weltweit einer der außergewöhnlichsten Filmemacher. Seine Lebenserinnerungen enden mit einem Satz, der einfach abbricht. Herzog schreibt im Vorwort, während des Schreibens sei ein kupfern und hellgrün glänzender Kolibri wie ein Projektil auf ihn zugeschossen [aus: W. Herzog, Jeder für sich und Gott gegen alle, München 2022, S. 10]. Herzog entschloss sich in diesem Moment nicht weiterzuschreiben: »Der letzte Satz bricht einfach dort ab, wo ich gerade angekommen war.«
Ich wünsche Ihnen für die Zukunft alles Gute! Bleiben Sie neugierig!