Strukturwandel – Olafur Gislason

Strukturwandel, 2005 / Olafur Gislason / Videodokumentation: Martin Kreyssig

Strukturwandel, 2005 von Olafur Gislason im Cuxhavener Kunstverein.

Videodokumentation einer Performance in der Bühne am Nordseekai in Cuxhaven 2005 im Rahmen der Gruppenausstellung „A WHITER SHADE OF PALE“ – Kunst aus den Nordischen Ländern an der Unterelbe.

Strukturwandel, 2005 / Videodokumentation / Olafur Gislason
Strukturwandel, 2005 / Videodokumentation / Olafur Gislason

Olafur Gislason: „STRUKTURWANDEL“ Cuxhaven von Nina Möntmann

Die Fischerei prägt das Stadtbild von Cuxhaven. Ungebrochen baut die Touristikbranche auf diesem Image auf. Ungebrochen und ungeachtet der Tatsache, dass sich die technischen und ökonomischen Bedingungen sowie die politischen und sozialen Realitäten drastisch verschoben haben: ein „Strukturwandel“, wie es der Titel der Arbeit Olafur Gislasons benennt. Der Blick auf den Hafen als Produktionsstätte täuscht. Die Fische werden hauptsächlich anderswo gefangen. Als Hauptumschlagplatz in Deutschland fungiert inzwischen der Frankfurter Flughafen. Fisch wird auf dem Landweg, zum Beispiel aus Dänemark und Norwegen zur Weiterverarbeitung nach Cuxhaven gebracht. Dort sitzen lediglich jene Firmen, die den Hering marinieren und in Gläser abfüllen, oder Fischmehl herstellen, was die Vorstellung von Fisch als lokalem Produkt illusionär erscheinen lässt.

Gislasons Arbeit besteht aus mehreren aufeinander verweisenden Teilen: Zunächst führte er Interviews mit Krabbenfischern, Kapitänen des Hochseefischfangs, mit einem Fischhändler und den Chefs der größten Fischfangfirmen. Die editierten Gespräche werden in einem Monolog zusammengefasst von einem Schauspieler gesprochen. Der Monolog ist in einem, von Gislason entwickelten Bühnenhäuschen auf dem Nordseekai zu hören. Nur der äußere Bereich des Objekts ist für das Publikum begehbar. Durch vier Fenster auf verschiedenen Ebenen kann man eine Akrobatin betrachten, die den inneren Raum, den eigentlichen Bühnenraum, bespielt.

Gleichzeitig sind im Kunstverein Zeichnungen und Aquarelle Gislasons zu sehen, unterschiedliche, teils assoziative Verbildlichungen der prekären Lage der Cuxhavener Fischindustrie. Während seiner Recherche vor Ort entdeckte Gislason im Cuxhavener Fischereimuseum die Figur eines Seemanns, die er für die Dauer der Ausstellung ebenfalls in den Kunstverein stellt. Die als Seemann hergerichtete Schaufensterpuppe im Museum sieht Gislason als Symbol für die Musealisierung, die den Niedergang der Fischerei spiegelt. Im Gegenzug wird im Fischereimuseum ein Video gezeigt, das den Ausflug der Figur in den Kunstverein dokumentiert.

Gislason verwendet in „Strukturwandel“ Motive und Vorgehensweisen, die sich auch in seinen vorherigen Projekten finden und sich als roter Faden durch seine Arbeit ziehen: Partizipation, Narration, Räume, Displays und Metaphern.

PARTIZIPATION

In früheren Projekten forderte Gislason vielfach die Besucher eines bestimmten Ortes auf, als künstlerisch geltende Produkte wie Zeichnungen oder Texte zu hinterlassen. So konnten in der „Woche der Bohème“, die Gäste in einigen Beisls in Wien ihre Speisen mit einer spontanen Zeichnung bezahlen. Der Künstler hatte sich mit einem Flyer an die Beisl-Wirte gewandt und zu dieser Aktion aufgerufen. „Media Thule“, ein Projekt, das im Rahmen von „Skulpturlandskap Nordland“ an einem einsamen Ort am Meer in Norwegen realisiert wurde, besteht aus einem Holzhaus mit Aussichtsfenstern und bereitgestellten Zeichenutensilien. Spaziergänger und Naturfreunde können sich in dem klassischen Genre der landschaftsinspirierten Zeichnung versuchen oder Texte hinterlassen, die vor Ort archiviert werden. Instand gehalten wird dieses Projekt seit 1994 von Anwohnern des nächstgelegenen Dorfes, die das Zeichenmaterial auffüllen, die Papiere aufhängen und abheften und den Raum beheizen. Diese Form der Kooperation, in der der Künstler eine Situation oder einen Raum initiiert und in diesem Rahmen den einzelnen Besucher auffordert, eine künstlerische Produktion zu hinterlassen – im Fall von „Media Thule“, sich mit einer Zeichnung oder einem Text in ein Verhältnis zwischen Natur und Kultur zu verorten – ist für diese Projekte charakteristisch .

In neueren Arbeiten hingegen tritt eher die persönliche Geschichte, die Identität und Biografie von Personen, die an dem künstlerischen Prozess partizipieren, in den Vordergrund. Die Zusammenarbeit beschränkt sich häufig auf Interviews, wobei ihn vor allem migrantische Identitätsfragen interessieren. Für „Träumen in Hannover“, 2002, sprach er mit einem irakischen Kurden, einem Senegalesen und einer Philippinin über die individuelle Geschichte ihrer Migration und ihr Leben in Hannover. Und für die Arbeit „Goldener Bambus“ erzählt ein Vietnamese, der zu DDR-Zeiten nach Leipzig gekommen war und ein Restaurant eröffnete, die Geschichte seiner Familie, erzählt von der Wende und seinem Verhältnis zu den Deutschen.Und in Cuxhaven schließlich spricht Gislason mit Personen, die in der Fischindustrie beschäftigt sind und über ihre Sichtweise der Situation der Fischerei erzählen.

Die Texte der Interviews werden jeweils unterschiedlich räumlich präsentiert: in „Träumen in Hannover“ als Wandtexte in einem lebensgroßen Raummodell, das in seiner Einteilung, Farbgebung und Ausstattung eine Vorstellung der drei Personen repräsentiert; in der Arbeit „Goldener Bambus“ ebenfalls als Wandtext, der den Blick auf eine Raumnische freigibt, in der sich die Palme und das Video ihres Transports vom Restaurant in den Ausstellungsraum befinden; und in Cuxhaven schließlich als ein von einem Schauspieler gelesenes Hörstück, das von dem Bühnenhäuschen aus in den Nordseekai hineinklingt.

Diese Form der Partizipation, die nicht zugleich auch eine Interaktion ist, unterscheidet Gislasons Arbeit von „Community Art“-Projekten, in denen meist mit sozial benachteiligten Gruppen interaktiv und mit gesellschaftlichem Nutzwert gearbeitet wird, und welche Mitte der 90er Jahre von Susan Lacy mit dem Begriff „New Genre Public Art“ belegt wurden. Auch im Unterschied zu den von Nicolas Bourriaud als „relational aesthetics“ bezeichneten Kunstformen, die eine Interaktion des Kunstpublikums evozieren, werden bei Gislason die partizipierenden Personen nicht zusammengeführt. Sie können sich als Co-Produzenten der Arbeit verstehen, in dem Sinne, dass sie entweder in einem Interview mit Gislason in Kontakt treten oder , wie in früheren Arbeiten, Produktionsmaterial vorfinden beziehungsweise aufgefordert werden, eine künstlerische Arbeit wie eine Spur an einem Ort zu hinterlassen.

Deswegen trifft auch bezüglich der Partizipation in Gislasons Arbeit der Vergleich des Künstlers mit dem Sozialarbeiter nicht zu – ein Topos, der in den 90er Jahren an viele Künstler herangetragen wurde, die mit marginalisierten Gruppen zusammengearbeitet haben. Ausgangspunkt seiner Arbeit ist immer der künstlerische Prozess, die Auseinandersetzung mit klassischen Medien und Kunstformen sowie eine deutliche Verbindung zum Kunstfeld, die in einer Verankerung im Ausstellungsbetrieb liegt.

NARRATION

Seiner von einem psychologischen Interesse getragenen Art von Zusammenarbeit kommt man eher mit einem Blick auf den Umgang mit Narration näher. In der Arbeit „Strukturwandel“ wird weniger die historische Situation analysiert, die Interviewten äußern vielmehr ihre Einschätzung der gegenwärtigen Situation und die Aussichten auf die Zukunft der Fischerei in Cuxhaven. Gislason suchte Orte und Personen auf, die mit der Fischerei zu tun haben. Er recherchierte nicht in Bibliotheken und Archiven, sondern sammelte die persönlichen Geschichten, die ihm erzählt wurden und die er zwar editiert aber nicht kommentiert, oder durch gezielte Fragen beeinflusst. Man erfährt über Probleme der Überfischung, darüber, dass staatlich geförderte holländische Großhändler den Markt bestimmen, die Computerisierung des Fischfangs durch GPS-Systeme, die familiäre Anspannung, die ein 14-Stunden Tag auf See mit anschließender Vermarktung der Ware mit sich bringt, und darüber, dass die Deutsche Fischfang Union in isländischen Händen ist.

Die Erfahrungsberichte der interviewten Personen, die Erzählungen ihrer Sichtweise der spezifischen lokalen Situation der Fischerei in Cuxhaven erzeugen einen narrativen Raum, der sich über die Bestimmungen des Orts legt und lassen sich damit als eine ortsbezogene Praxis erkennen. Unsere Erfahrung und Sichtweise des Orts Cuxhaven wird beeinflusst durch das Wissen und die Erlebnisberichte der interviewten Personen. Michel de Certeau argumentiert, dass Erzählungen Orte definieren und regulieren : „Jeden Tag durchqueren und organisieren [Geschichten] die Orte; sie wählen bestimmte Orte aus und verbinden sie miteinander; sie machen aus ihnen Sätze und Wegstrecken. Sie sind Durchquerungen des Raumes.“Durch Geschichten formt sich damit unsere Kartographie eines Raumes. Deshalb ist „jeder Bericht ein Reisebericht – ein Umgang mit dem Raum.“

Neben den unmittelbaren, nach dem Verfahren und der Erkenntnisstruktur der „oral history“ zusammengestellten, persönlichen Erzählungen bilden auch die Konstellationen der physischen Elemente der Arbeiten zueinander einen narrativen Zusammenhang. Gislason übersetzt mithilfe von Displays und Metaphern Erzählstrukturen in den Raum.

DISPLAYS, RÄUME UND METAPHERN

Gislason arbeitet häufig mit metaphorisch aufgeladenen Räumen. Da ist zunächst die Bühne, die, vergleichbar mit de Certeaus Definition der Aufgabe der Erzählung, eine Plattform für Handlungen bildet: „Das ist die erste Aufgabe der Erzählung. Sie eröffnet ein Theater zur Legitimierung tatsächlicher Handlungen. Sie schafft einen Bereich, der gewagte und zufällige gesellschaftliche Praktiken autorisiert .“Das hier erwähnte Verhältnis von der Metapher im Bühnenspiel zur Realität zeigt sich in der Parallele der extrem gelenkigen Performance der Akrobatin zu den in den Interviews anklingenden Bemühungen oder Verrenkungen, die unternommen werden müssten, um die wirtschaftliche Situation Cuxhavens zu retten.

Das Haus ist nicht begehbar und lässt von außen durch Fenster die Akrobatin beobachten. De Certeau schreibt über das Haus (mit Bezug auf Bourdieus Ausführungen zum kabylischen Haus): „Durch die Praktiken, die seinen Innenraum gliedern, kehrt es die Strategien des öffentlichen Raumes um und organisiert insgeheim die Sprache.“Auch wenn die Tanzperformance in dem Hafenhäuschen nicht den üblichen Nutzungen eines Hauses entsprechen, die de Certeau meint, so kann man dennoch von einer „Umkehrung der öffentlichen Ordnung“ sprechen, wie es im folgenden heißt, sowie von der „Erzeugung eines Diskurses.“

Ein weiteres wiederkehrendes Motiv in Gislasons Arbeit ist die dokumentierte Reise eines narrativ aufgeladenen Gegenstandes, wie die Reise der Seemannsfigur in den Cuxhavener Kunstverein oder die Reise der Palme des vietnamesischen Restaurants in den Ausstellungsraum. Diese temporäre Kontextverschiebung wirkt wie ein Brechtscher Verfremdungs-Effekt: der Seemann, wie auch die Palme, fallen erst als von einem Ort erzählende kulturelle Signifikanten auf, wenn sie dem gewohnten Zusammenhang entnommen werden und im Rahmen der Kunstinstitution beziehungsweise der Installation rekontextualisiert werden. Ob Akrobatin, Reise, Haus oder Bühne: hier spiegelt sich das Interesse, ein Motiv oder eine Metapher für ein gesellschaftliches Phänomen zu finden. Kunst operiert bei Gislason auf einer symbolischen (oder weitergedacht auch: symbolpolitischen) Ebene, die einen narrativen, auf den Ort bezogenen Raum produziert.

© Nina Möntmann, 2005

Zeremonie für ein Double – Das dritte Auge – Gustav Kluge, Kathrin Haaßengier

Zeremonie für ein Double – Das dritte Auge © Gustav Kluge, Martin Kreyssig 2010

Videodokumentation (Länge 18:07 Min) einer Performance von Gustav Kluge und Kathrin Haaßengier in der Galerie Frisch, Berlin am 30. April 2010 anlässlich einer Ausstellung von Gustav Kluge.

»Ein Telefonat eröffnet am 30. April 2010 gegen 19.30 Uhr die Ausstellung von Gustav Kluge und Kathrin Haaßengier bei FRISCH in der Halle am Wasser hinter dem Hamburger Bahnhof. Der Einlass beginnt ab 18 Uhr. Gesprächspartnerin am Telefon ist die Hamburger Transsexuelle Christine W.. Danach geht die Handlung der „Zeremonie für ein Double“ über in die Bergung Siamesischer Zwillinge aus dem Berlin-Spandauer-Schifffahrtskanal sowie ihrer Operation.

„Das Leben von Christine W. ist eine Extrembiografie“, so Gustav Kluge, neun Jahre hat er mit dem Aktmodell zusammen gearbeitet. „Aus der Sicht des Malers besitzt sie einen archetypischen androgynen Körper. Diesen hat sie nach ihrem Ideal umgeformt. Das führte zu einem Leidensweg, der sie in der neuen Welt nicht ankommen ließ. So reagiert sie auf viele und vieles mit Aggression.“ Im September 2009 wurde Christine W. wegen Körperverletzung zu drei Jahren Haft und Unterbringung in der Psychiatrie verurteilt. Gustav Kluge hat diese Selbstschöpfung und Aggression der Christine W. in fünf der sechs in der Ausstellung befindlichen szenischen Bilder ausgelotet und umgesetzt.

Der Operationssaal, von Kathrin Haaßengier entworfen, zwingt die Zeremonie in eine klaustrophobische Enge. Nur ein Kabel transportiert Videobilder nach außen. Solche Lebensadern wiederholen sich in den drei weiteren kinetisch-akustischen Skulpturen der Bildhauerin. Sie bestehen aus blickdichten Körpern, gläsernen Milchabscheidern und verworrenen miteinander verschlungenen Schläuchen. Strömende Flüssigkeiten transportieren ihren Rhythmus.«

(Quelle: Galerie Fritsch)

ZEREMONIE FÜR EIN DOUBLE / VERTAUSCHTE ZUNGE, Screenshot © Gustav Kluge, Martin Kreyssig 2010
ZEREMONIE FÜR EIN DOUBLE / VERTAUSCHTE ZUNGE, Screenshot © Gustav Kluge, Martin Kreyssig 2010
ZEREMONIE FÜR EIN DOUBLE / VERTAUSCHTE ZUNGE, Screenshot © Gustav Kluge, Martin Kreyssig 2010
ZEREMONIE FÜR EIN DOUBLE / VERTAUSCHTE ZUNGE, Screenshot © Gustav Kluge, Martin Kreyssig 2010

Film und Architektur – Architektur als Chor

Film und Architektur, Foto: @ 2010 Martin Kreyssig

Architektur im Film darf ihrer Funktion nach in vier Kategorien unterteilt werden:
1. Architektur dient der Bewegungsdarstellung
2. Architektur dient der Proportion.
3. Architektur dient als topografisches Zeichen und Sozialisation.
4. Architektur dient der Fiktionalisierung.

Architektur dient der Bewegungsdarstellung

Architektur – und ich unterscheide nicht zwischen der Location, dem Studiobau und dem Rechner gestützten, virtuellen Dekor – Architektur wird als festes, unbewegliches Bestandteil der filmischen Erzählung eingesetzt. Wie ein Baum steht, so gründet die Architektur im Boden. Um sie herum herrscht Bewegung, in ihrem Innern beherbergt die Architektur Bewegung.
Film ist a priori Bewegung – technisch betrachtet: der bewegte Filmstreifen, Rollen, Räder, Riemen – inhaltlich grenzt er sich von der älteren Fotografie durch die Möglichkeit der Bewegungsdarstellung ab. Der Regie gilt es als Aufgabe die Bewegung von Menschen und Objekten – Auto, Eisenbahn, Schiff und Flugzeug – vor einem unbeweglichen Dekor zur Geltung zu bringen. Die Bewegung selber wird erst deutlich durch die sie umgebende Unbeweglichkeit. Film hat also Bewegung zum Thema, benötigt aber Unbeweglichkeit zur Referenz und Bedingung. Wäre im Film alles in Bewegung, könnte das Auge das Wichtige vom Unwichtigen nicht unterscheiden. Wichtig für den Film ist der bewegliche, bewegte Mensch und das bewegte Objekt, dem Menschen Untertan. Architektur ist somit ein dreidimensionales Objekt vor dem und in dem sich etwas bewegt. Architektur ist Herberge und Hintergrund filmischer Bewegungszeichen. Architektur dient dem Status quo. Architektur ist in Bezug auf die Bewegungsdarstellung gefrorene Zeit – ein Freeze, ein dreidimensionales Standbild, ein Dekor, eine Kulisse in der Leben stattfindet. Dieses Leben bewegt sich hinein und heraus aus der statischen Kulisse, die Bewegung nutzt das Unbewegliche zum Aufenthalt, zur Rast, zum Showdown, zu Liebe und Tod. Architektur im Film ist eine starre, unbewegliche Hülle für Aktionen und Agierende.
Die Bewegungsdarstellung kann aus ästhetischen Gründen verlangen die Architektur im Film unscharf, oder unterbelichtet oder in Bewegungsunschärfe abzubilden, um dem Betrachter eine bessere Fokussierung auf die Bewegung zu ermöglichen. In diesen Bewegungsphasen wird das Dekor verschliffen und kann bis zur grafischen Unkenntlichkeit zerdehnt werden – eine buntes Band. In diesen Phasenbildern löst sich der Baukörper auf und wird zum Vorhang, dessen Unschärfe der Schärfe des Objektes als Fond dient. Im Verschleifen des Dekors bei der Bewegungsdarstellung löst sich die Körperlichkeit der Herberge auf. Architektur dient jetzt lediglich als virtuelles Band mit dem das Subjekt der Betrachtung geschmückt, umgürtet wird. Hier in der Auflösung von Raum wird das Dekor zum Kleid im bekannten Sinn als dritte Haut.
Architektur im Film dient also der Bewegung als Gehäuse und Hintergrund, sie dient aber ebenso der Blickbegrenzung. Der Blick des Zuschauers auf das laufende Bild sucht beständig nach Halt. Gewohnt – aus Furcht – zuerst auf das Bewegliche zu schauen, betrachtet er im zweiten Schauen die Begrenzung, das Unbewegliche. In einer weiten Totale heftet sich der Blick an den einzigen Baum, im Monument Valley an die bekannten Felsenformationen, auf See an das einzige weisse Segel.
Im Nahbereich sucht das Auge Gesichter, Hände, tastet die menschlichen Gliedmassen ab, orientiert sich an der Mitte und am hellsten Punkt. Erst im Verlauf der Einstellung gerät der Blick an die Ränder des Bildfeldes, betrachtet das begrenzende Dekor, die Umfassung des Zentrums im Hintergrund. Architektur im Film ist das Nichtloch hinter den agierenden Subjekten / Objekten, sie bettet den Blick, führt und leitet ihn immer wieder zurück auf das Wesentliche der Darstellung in ihrer Mitte. Architektur im Film wirft den Blick des Betrachters wie ein Echo zurück auf den Gegenstand seiner Aufmerksamkeit: den Protagonisten. Das Dekor einer Stadt dient dem Blick als Behausung und Führung zurück zur Beweglichkeit.
Der Film benötigt die Architektur als Herberge für Aktion und Resonanzfläche der Aufmerksamkeit. Die von Formen, Farben und Lichtintensität gereizten Zellen wandern über das Dekor und ruhen sich aus.
Architektur entbirgt hier ihre sozusagen akustische Kraft des Dekors, die der Film visuell nutzt. Architektur im Film wird so ausgesucht und gewählt, dass sie die ideale Umgebung, das perfekte Set zur Bewegung darstellt und den Blicken die richtige Resonanzfläche als visuelles Echo bietet.

Architektur dient der Proportion

Architektur im Film liefert Proportion. Ob ich eine Totale oder eine Naheinstellung wähle, im technischen Bild existieren immer nur Verhältnisse zwischen flachen, zweidimensionalen Körpern – Kreise, Quadrate und Rechtecke –, denen der Betrachter anhand von Grössenvergleich und Referenzpunkten räumliche Eigenschaften zumisst. Eine Türklinke, ein Türrahmen, ein Waschbecken, ein Flur, ein Fensterbrett oder Treppenstufen liefern Anhaltspunkte für Grössenverhältnisse und –vergleiche in Bezug auf die menschliche Proportion. Die stiftende Dominante ist der erwachsene Mensch, dessen Erfahrungen auch alle räumlichen Entscheidungen bestimmt. Als Spiegel realer Erfahrungen stiftet die Architektur im Film Massstäblichkeit, die filmische Darstellung per se benötigt. Weshalb?
Zum einen entsteht in der Erfahrung von Wirklichkeit dreidimensionales Sehen aus der binokularen Struktur beider Augen und ihres räumlichen Abstandes zueinander. Dem gegenüber steht die Einäugigkeit der filmischen Apparaturen. Der Film operiert somit immer mit der Fiktionalisierung von Raum, Raum ist per definitionem virtuell.
Zum anderen wird die Wirklichkeit im Abbild der Wirklichkeit auf ein 352 Quadratmillimeter grosses Feld reduziert (bei 35 mm Film = 22 x 16 mm), um anschliessend extrem vergrössert zu werden. Dieser Atem, diese technische Perspektive verlangt nach Halt und bekannten Parametern, an denen sich Erfahrung orientieren kann. Das Gehirn sucht Begründung und Vergleich, es verbraucht extrem viel Aufmerksamkeit = Aufnahmekapazität falls diese Suche nicht erfolgreich ist und Disproportionalität gewünscht ist.
Der Film operiert mit architektonischen Mustern, die keine Frage nach ihrem Woher? aufwerfen, keine Fragestellung mit sich führen, die den Betrachter aufhält. Erst in der zweiten, vielfachen Betrachtung werden diese Settings deutlich und führen zur Vertiefung der Lektüre, nicht selten zum eigentlichen Gehalt des Films. Auf das im wesentlichen retrospektive Dekor von Sci–Fi Filmen komme ich weiter unten zurück. Es sei hier nur gesagt, dass Wiedersehen Wohlbefinden und Gewissheit erzeugt.
Vor diesem Hintergrund ist es im Umkehrschluss nur verständlich, dass in reinen VR–Welten aus dem Rechner menschlich anmutende Avatare, Bäume und architektonische Dekors derart eingesetzt werden, dass den Vergrösserungsmöglichkeiten immer die gleichen Parameter zugrunde gelegt sind, denn auch hier herrscht eine von den Proportionen her anthropotopische Perspektive. Hier gäbe es die Möglichkeit eine Architektur zu entwerfen, die abgelöst von jeglicher Wirklichkeitsfolie existiert.
Architektur im Film stiftet Proportion, verheisst Halt und Augenmass, um Bewegungsrichtung, Tempo und Volumen einschätzen zu können. Der Architektur kommt die Rolle eines Konservators zu, eine unbewegliche Erinnerungsmaschine, die durch reine Anwesenheit zu evozieren weiss. Proportion als Erinnerung an die wirkliche Welt.

Architektur dient als topografisches Zeichen und Sozialisation

Die dritte Funktion und am meisten beachtete Aufgabe der Architektur im Film aber obliegt im Bergen der dramatis personae. Sie ist – wie im wirklichen Leben – Herberge und soziales Dekor seiner Protagonisten. Sie ist reich oder arm, opulent oder karg, öffentlich oder privat. Die Helden und Opfer leben und arbeiten dort und darin. Architektur im Film ist der Aufenthaltsort der Handlung und macht dies als gut und meist einfach lesbares Zeichen deutlich. Diese Zeichen – Stadt, Haus, Hütte, Palast – werden der Bewegungsdarstellung als Ort, Platz, Arena zugeordnet. Die Handlung erhält nicht nur optisch einen Hintergrund, der den Blick begrenzt, die Handlung wird durch die Architektur um stumme Erzähler ergänzt, die das Set bevölkern und vielstimmig einem Chor vergleichbar den Background bilden, der jenseits von Plot und Aktionen die Erzählung erweitert. Architektur im Film hat berichtende, erzählende Wirkung, die zum Zeichen reduziert geografische Details, Formen von Sozialisation und historische Komponenten liefert.
Architektur im Film in dieser Funktion wird gecastet, wie man Darsteller auswählt. Sie wird auf Wirkung und Funktion überprüft im Hinblick auf Licht, Form und Historie. Dabei wird sie schon in früh in der Planung bis hin zur Endfertigung segmentiert, zerteilt, zergliedert und umgenutzt. Genuine Funktionen werden ausgetauscht und etwas anderes eingebaut; eine störende Wand in der Nachbearbeitung retouchiert, der Himmel über der Stadt mit Häusern aufgefüllt aus einer anderen Perspektive. Jedes Detail existiert ausschliesslich zu einem einzigen Zweck: es muss der filmischen Erzählung zum Fortgang verhelfen.
Architektur im Film hat nur in Bezug auf den Film und seine Grammatik eine Funktion. Ihre Funktion und Bedeutung im Film erfüllt nur in Bezug auf ihre reproduktive Gestalt einen Sinn. Architektur im Film hat keine Funktion in der Wirklichkeit, sie ist ausschließlich Zeichen und Stellvertreter.
Der Aufgabe innerhalb der Wirklichkeit entledigt, hat die Architektur im Film ausschliesslich die Funktion Imagination auszulösen, eine Architektur zum Träumen. Architektur im Film stellt etwas vor und bietet Erinnerung, wo individuell keine vorliegt.
Architektur im Film sagt: Das ist so. Das war so.
Erzählendes Dekor ist beschriebene Umgebung. Architektur im Film liegt zu aller erst als Text vor, bevor sie zum Zeichen im Bild mutiert, gecastet oder im Studio aufgerichtet. Wie alles beim Film ist auch sie zuerst Wort.
Dabei unterliegen die Architektur im Film den gleichen Prämissen von Auswahl und Exklusivität wie alle anderen Teile der Filmherstellung. Man sucht das Aussergewöhnliche, originäre solitäre Ereignis, Objekt, Detail. Gebaute Architektur wird nach erzählerischen, visuellen und technischen Kriterien betrachtet. Im Zuge wachsenden Einsatzes von digitalem, virtuellem Dekor wird die abgebildete Architektur wie im Studio generell nur für den Moment der Belichtung gebraucht, sie kann anschliessend nicht mehr bereist werden. Manche Details werden sich möglicherweise in ein Filmmuseum retten können.
Der Film hinterlässt eine Stadt der Zeichen, die seiner subjektiven Fabel dienen, nicht den Wünschen ihrer Bewohner. Die Stadt mit den Augen der Autoren gesehen, lässt die meisten Gebäude, Strassen und Viertel unbeachtet. Für den Film existiert die Welt nur in Bezug auf ihre Wirkung, eine andere Perspektive fehlt, wie wohl Filme existieren, die andere Perspektiven entfalten.

Kleiner Kriterienkatalog für ein Gebäude mit Starallüren:
1. Sei extravagant und unverwechselbar.
2. Lasse dich oft fotografieren.
3. Erinnere irgendwie an andere berühmte Gebäude.
4. Lasse dich oft fotografieren.
5. Sei freundlich und offen zu Besuchern.
6. Deine Funktion ist Wirkung. Andere Funktionen sind zu vernachlässigen.
7. Lass dich oft fotografieren.
8. Wähle für Dein Äusseres Materialien, die Dich in Würde altern lassen.
9. Vergiss das Altern. Fotografie verspricht ewige Jugend.
10. Lass dich oft fotografieren.

Architektur dient der Fiktionalisierung

Architektur im Film existiert als ein Zeichen von Zeit, ein Körper im Prozess. Sie verweist auf eine objektive Zeit im historischen Sinne und transportiert die subjektive Zeit ihres Alterungsprozesses. Eine Architektur darf viel erlebt, sie kann wie ein alter Haudegen grosse Stürme abgeritten haben. Architektur kann Haupt– und Nebendarsteller sein. Sie erzählt durch ihr so–geworden–sein und steht mithin als das Zeichen eines historischen Dokuments. Wie ein Überbleibsel, Menetekel einer untergegangenen Epoche spricht sie und kündet im Heute vom Gestern.
Der Film sucht diese Zeitverweise, um sich mittels dieser Zeugen der Geschichte zu vergewissern, um sich in den Bezügen zur Wirklichkeit verorten zu können. Er benutzt Architektur im Bild zur Begründung von Zeit. Die filmische Fiktion gründet auf klaren Verabredungen zwischen Autor und Publikum und bedarf somit der Übertragung von Wirklichkeitszeichen als Verbindung des filmischen Bildes zur Wirklichkeit. Diese verbindliche Verankerung verlangt jede Fiktion, sonst kann sie als Erzählung in der Welt nicht existieren. Jedes Detail wird dabei auf seine Glaubwürdigkeit hin vom Publikum überprüft und je näher dekorative Elemente an die fiktive Biographie des Helden angelehnt werden, desto möglicher wirkt die Fiktion. Dem Dekor aus Wirklichkeit entspricht der Konjunktiv, die Möglichkeitsform innerhalb dessen, was als wahr und denkbar erachtet wird. Die erzählte Fabel wird einem virtuellen Ei gleich vor einem Nestdekor inszeniert, dessen Geflecht so viel Wirklichkeit wie irgend notwendig enthalten sollte. Das Dekor aus Wirklichkeit und Nähe als ästhetisches Feedback zeigt die Naht zwischen indikativischer Existenz des Publikums und konjunktivischer Fabel. Es suggeriert Sicherheiten und Relation.

Welche Rolle also spielt Architektur im Film?

Architektur im Film hat die Funktion Erinnerung zu produzieren. Architektur im Film dient der Vergewisserung von Welt, wie der Blick in den Spiegel zeigt, das der Betrachtende menschliche Züge trägt. Das architektonische Dekor ist mithin Rückblick, Echo, kurz: Vergangenheit, während die Fabel alle Züge vollkommener Möglichkeitsform, bis hin zur futuristischen Fiktion tragen kann.
Das Dekor ist – ob private oder öffentliche Architektur – in der kollektiven Biographie für alle zugänglich und verbindlich, während das einzelne Schicksal, besonders das fiktionale sich dieser Verbindlichkeit versagt. Nur in diesem realen Setting gedeiht der Satz: „Dies ist eine wahre Geschichte.“
Deutlich von hier aus, weshalb die futuristische Fabel im Dekor retrospektiv sein muss. Der U–Topos ist schwerer zu beschreiben als der U–Logos gesprochen wird. Dabei wäre der U–Logos ein Unwert, besser ein Nichts. Schweigen. Erst vor oder innerhalb bekannter Topoi – und seien es nur Versatzstücke – kann der Logos etabliert werden, der im bestehenden Topos vom U–Topos erzählt. Hier werden Wort– und Aktionsgebilde errichtet, keine Gebäude aus Stein. Architektur kann nicht Behauptung sein, sie will / muss Wirklichkeit werden und damit ist sie immer retrospektiv im Sinne konjunktivischen Erzählens.
Architektur im Film ist Herberge und Nahtstelle von der aus und aus der heraus gedacht, und gehandelt werden kann. In einer wirklichen Architektur kann Futur entwickelt werden und hierin entwickelt Architektur im Film ihre metaphysische Dimension:
Sie ist heute Ort von Morgen.

Martin Kreyssig, 2002


New World Order – Richard Deacon

Richard DeaconTate Gallery Liverpool, 1999, Videofilm, 6 min

Filmisch – musikalische Notiz zur Einzelausstellung von Richard Deacon in der Tate Gallery Liverpool 1999.

«As we shall see, the mean information of a message is defined as the amount of chance (or randomness) present in a set of possible messages. To see that this is a natural definition, note that by choosing a message one destroys the randomness present in a variety of possible messages.» (David Ruelle, Chance and Chaos)

New World Order, Exhibtion View, Tate Liverpool © Richard Deacon, 1999

BLANK PLAYS DUDEN

Blank Plays Duden © Christoph Korn, Oliver Augst, Rüdiger Carl, Martin Kreyssig 2006

BLANK PLAYS DUDEN (DVD) 2006, Published by revolver and textxtnd, ISBN 3-86588-246-3

Oliver Augst, Rüdiger Carl, Christoph Korn, Martin Kreyssig, Cover Art by Tobias Rehberger, Günter Förg (1952-2013)

Blank Plays Duden / Rüdiger Carl, Oliver Augst, Christoph Korn © Foto: Christoph Oldendorf 2006

Rüdiger Carl is one of the most important personalities who has come out of European free jazz. The artists Oliver Augst and Christoph Korn, a generation younger, work in a conflicting field of improvisation, installation, electronics and theory. Theory and noise sit together here “as exactly as a tailor-made suit” says the German music magazine Spex. Oliver Augst, Rüdiger Carl and Christoph Korn have appeared as “blank” in the last few years presenting various projects and releases. Their newest project DUDEN takes “collection” as its starting point. Oliver Augst, Rüdiger Carl and Christoph Korn have sifted through their current recordings and publications in the last few years, deconstructed them quasi-microscopically and compiled countless humorous and colorful mnemonic fragments.
These snippets are pressed as so-called “locked grooves” into the vinyl. On a “locked grooves” record, the music grooves form self-contained circles which keeps the ton arm “locked” in a turnaround – a loop that lasts exactly 1.8 seconds. Over 200 of these loops make up the musical material of DUDEN.

Aufgeführt im Museo d’Arte Contemporenaea in Lissone, Italien vom 23.09. – 19.11.2017

Blank Plays Duden / Rüdiger Carl, Oliver Augst, Christoph Korn © Foto: Christoph Oldendorf 2006
Blank Plays Duden / Rüdiger Carl, Oliver Augst, Christoph Korn © Foto: Christoph Oldendorf 2006