»Alles, was der Betrachter über eine Skulptur von mir denken kann, ist Bestandteil der Skulptur.« – Henk Visch

(Der hier überarbeitete Text entstand als Rede anlässlich der Eröffnung der Ausstellung von  Henk Visch am 25. November 2001 im Kunstverein Bremerhaven)

Henk Visch sagte dies 1990 in einem Interview. Er weist hin auf ein offenes System, eine Einladung, eine Möglichkeit, die sich uns allen präsentiert: Eine offen stehende Tür. Somit überlässt der Künstler uns, seinem Publikum die Betrachtung, die Gedanken und weist diesen Gedanken Anlass und Ort zu. Ort ist der Kopf, der denkt; Anlass die Skulptur, das künstlerische Werk.
Henk Visch impliziert mit seiner Behauptung die Möglichkeit eines kollektiven Denkens: die Einladung zu einem gemeinsamen Stück Weg, das Untergreifen des Armes, wie man jemanden bei der Hand nimmt und sich somit eine gemeinsame Zeit teilt. Etwas Gemeinsames meint der Begriff vom „Bestandteil der Skulptur“, der von allen, die daran beteiligt sind – beteiligt beim Verfertigen, beteiligt im Betrachten des Werkes – geteilt wird. Per definitionem ist das künstlerische Werk somit etwas, das wir uns teilen. Alle unsere Gedanken sind Bestandteil der Form, ja sind die Form selber.
Somit schafft der Künstler mit seinem Werk keine endgültige Form – man schiebe in die Form ein „u“ – sondern er schafft ein For–u–m, das zur Versammlung einlädt. Henk Visch eröffnet mit seiner Kunst Versammlungsorte, Marktplätze, die uns Möglichkeiten bieten, Angebote mithin, die wir nutzen können. Der Künstler wirkt als Dienstleister, als jemand der Räume definiert, die der Öffentlichkeit zum Verfertigen von Gedanken dienen.
Allein die Tatsache, seiner Ausstellungseinladung gefolgt zu sein, entspricht dem Formkonzept des Künstlers, Angebote aufzustellen, die alle ansprechen. Nur so lässt sich die Wandlungsfähigkeit verstehen, mit der Henk Visch durch scheinbar unzusammenhängende Werklandschaften navigiert. Es sind dies Landschaften, die sehr heterogenen Angebots– und Nachfrageüberlegungen folgen. Das Werk erscheint aus dieser Perspektive wie eine Kammer voller Gegenstünde, die einander den Rücken kehren, nicht zueinander passen wollen. Doch bescheinigt gerade die Formenvielfalt des Künstlers grosse Variabilität, sie bezeugt seine Freude am Erdenken und Erträumen unterschiedlicher Zustünde. Ob figürlich, ob abstrakt, ob klein oder gross, ob nahezu durchsichtig und leicht, ob schwer und unverückbar oder filigran und nervös – alle diese Formen sind sinnlich und über–sinnlich zugleich, sie enthüllen sich fortwährend im Moment ihrer Betrachtung – durch uns.
Diese Möglichkeitsform, der Konjunktiv zu dem uns Henk Visch einlädt, bildet deutlich das Gegengewicht zu indikativischen Leistungen auch zeitgenössischer Kunst, die ausschliesslich Reaktionen sind. Reaktionen auf politische Tändelei, Echos auf allgegenwärtige Medien oder Mitleid mit der eigenen Biographie. Hier im überbordenden Indikativ unserer Gegenwart wird – mit Enzensberger gesprochen – der »Triumph der Unmittelbarkeit« ausgespielt. Das Publikum erkennt, erkennt erneut, nickt mit dem Kopf, reiht sein eigenes Erinnern ein in ein kollektives Erinnern … und vergessen.
Ein Künstler aber muss an der Realität mehr wahrnehmen als nur diese. Es reicht nicht, ein schlauer Kopist zu sein oder in aller Banalität dem Volk aufs Maul zu schauen.
»[…] Der totale Anspruch auf Wirklichkeit tötet den Konjunktiv.[…] Was nicht in einem Spannungsverhältnis zur Tradition steht, ist kein Kunstwerk, sondern nur irgendein Ereignis. Ein Experiment, das in Serie geht, ist blosse Dekoration.«, sagte Jan Philipp Reemtsma 2001 im Hamburger Schauspielhaus.
(Jan Philipp Reemtsma, Was wird aus Hansens Garten? in: Alles Kunst? Wie arbeitet der Mensch im neuen Jahrtausend und was tut er in der übrigen Zeit? Reinbek : Rowohlt 2001)
Die Bestandteile einer künstlerischen Arbeit sind – neben anderen Materialien – historische Kontinuität im Diskurs mit anderen Kunstwerken und die Verfertigung von Gedanken in der Betrachtung, ohne die das Kunstwerk nicht vollständig wäre. Dieser ästhetische Impuls ist keine Dekoration, sondern wesentlicher Gehalt der Moderne. Die Kunst muss Realität mittels Metapher und Symbol transzendieren. Erst in jenen höheren Regionen – Henk Visch nennt dies übersinnlich – sind Zusammenkünfte denkbar und in der Betrachtung erlebbar, die ein geistiges Fahrzeug anzutreiben vermögen. Hier öffnen sich Bilder und Vorstellungen, deren Kraft biedere Realität zu überwinden versteht. Hier finden wir das Gelenk, das Scharnier zwischen der Welt, wie sie ist und der Welt, die wir ertrauuml;umen.
Das Element Drei, der Fleck (die Welt im Spiegel betrachtet, verhindert das eigene Gesicht als Fleck den Blick auf die Welt an dieser Stelle), eine Form in den Händen, der Abstand zwischen zwei Parallelen, der Raum im Innern erzeugt die Aufmerksamkeit – das Dazwischen stellt die Verbindung her.
Auf dem Gebiet der Literatur hat Francis Ponge (1899–1988) Versuchsanordnungen installiert, die jene Gegenstände zwischen uns zu Sonnen macht, deren umkreisende Planeten wir selber sind. Ponge gilt als der „Dichter der Dinge“ und er portraitierte in Textstillleben Objekte des Alltags. So schrieb er über Kiefernwälder, Austern, Kerzen, Moos und Fleisch, über Türen, einen Waschkessel und eine Nebelglocke. Das Hauptwerk beschäftigt sich mit dem Kieselstein und der Seife. Da sein Schreiben beständig über den Akt des Schreibens reflektierte, darf er als jemand gelten, der sich über die Verfahren zur Herstellung von Imagination mittels der Poetik versteht. Solch ein Verfahren wünscht sich auch Henk Visch, der 2001 in einem kurzen Brief an den Verfasser schreibt:
»Ich hoffe die Ausstellung [in Bremerhaven] ist als etwas Leichtes zu erfahren. Die Dinge sollen nicht geschlossen und undurchdringbar sein, obwohl sie dauerhaft und solide sind! Es würde mich freuen, wenn die Ausstellung ein Anlass zum singen wird. Ich hoffe, meine Arbeiten vermögen etwas zusammen zu binden, dass vorher getrennt war.«
Mit einfachen Mitteln geht dieser Künstler vor, einen feinen Ton hineinzubringen, einen Klang innerhalb seiner grosszügigen Formen, die allein ohne die Brechung schon durchsetzungsfähig sind. Eine starke Linie biegen, ihr einen anderen Schwung geben. Den Verzicht üben auf einem einmal eingeschlagenen Weg. Von Widerspruch, Zögern und Irritation sprechen. Eine Melodie singen, plötzlich in eine Koloratur fallen, ein bisschen üben, und zurück zur Melodie. An der darf ruhig etwas fehlen.
An dieser Unvollkommenheit, an einem Grat von Störung, setzt sich unser Auge fest, verfängt sich der Blick, verfertigen sich die Gedanken, die der Skulptur zu ihrer Form verhelfen. Henk Visch setzt diese besonderen Stellen, auf die durchaus traditionell gearbeiteten Werke, wie kleine Schatten, die eine andere Sonne haben.

»Die Seife (Coligny, 3. Juni 1943)

Die Seife hat einen gewissermassen verehrungswürdigen Charakter. Warum verehrungswürdig? Weil ihr Verhalten zugleich höchst sympathisch und absolut unnachahmlich ist.

Denn die Seife hat ihre besondere Würde. Sie ist ein Stein, jedoch einer, der nicht zulässt, dass die Käfte der Natur ihm passiv mitspielen. Sie schlüpft ihnen durch die Finger, heftet sich irgendwo an den Boden und schmilzt dort lieber zusehends, als sich von den Wassern befingern zu lassen.

Der Mensch nutzt das aus. Wenn er sich mit ihr die Hände einreibt, schäumt die Seife, jubelt sie. Je wilder sie sich gebärdet, desto üppiger wird ihr Schaum, [perlmutterglänzend], desto willfähriger macht sie die Hände, glatt, geschmeidig, weich.

Ein Zauberstein!
… Desto schneller bildet sie mit Luft und Wasser explosive Trauben duftender Beeren.

Luft, Wasser und Seife greifen übereinander, springen Bock, gehen emphatische, leichte Verbindungen ein, die ein Hauch, ein Lächeln, ein klein wenig zu viel an innerer Eitelkeit, die geringste Übertreibung sprengen kann…

Oder eine Wasserkatastrophe.
[PAUSE]

Man sieht, dass ich die Ausführungen, die Variationen übertrieben habe; dass der Stil gewissermassen seifig geworden ist, sprudelnd, schäumend – wie der Schaum vor dem Maul eines galoppierenden Pferdes -.

Ich habe das natürlich mit Absicht getan.

Weiss ich doch, dass einige Sätze reiner Vernunft (oder Ironie?) hinreichen würden, dies alles zu säubern, aufzulösen, und wegzuspülen.«
(Francis Ponge, Die Seife. Frankfurt / M : Suhrkamp 1993)

Francis Ponge besinnt sich mit dieser ernüchternden Bemerkung am Ende und beleuchtet dergestalt das handwerkliche Verfahren sowie sein Verstündnis von Literatur.
Dazu schreibt Jean-Paul Sartre 1944: »Sein Verfahren wird die Liebe sein. Jene Liebe, die weder Begierde noch Inbrunst, noch Leidenschaft enthült, die aber vollständige Billigung ist, gänzliche Anerkennung, äusserste Hingabe …, um dem Gegenstand nicht Zwang anzutun. […] Kurz, es geht weniger darum, den Kieselstein [die Seife, Anm. d. Verf.] zu beobachten, als vielmehr sich in seinem Herzen festzusetzen und die Welt mit seinen Augen zu sehen, gleich dem Romancier, der sich, um seine Helden zu malen, in ihr Bewusstsein gleiten lässt und Dinge wie Menschen so beschreibt, wie sie ihnen erscheinen. […] Er [Ponge] kümmert sich nicht um Eigenschaften, sondern um das Sein. Und das Sein jedes Dinges erscheint ihm wie ein Entwurf, wie eine Bemühung um Ausdruck, um den bestimmten Ausdruck einer bestimmten Nuance von Dürre, Staunen, Grosszügigkeit, Unbeweglichkeit.«
(Jean-Paul Sartre, Der Mensch und die Dinge. In: Francis Ponge, Einführung in den Kieselstein. Frankfurt / M : S. Fischer 1986)

»Alles, was der Betrachter über eine Skulptur von mir denken kann, ist Bestandteil der Skulptur.«
Von dieser Skulptur aus hinaus in die Welt gedacht, wird sie zu einem Forum, wenn Gedanken sie durchkreisen. Ihre Form erwächst durch unsere Anwesenheit, ausgelöst durch unser Bemühen, unsere Neugierde.
Differenz, Zweifel und Schönheit entstehen erst in dieser genauen Betrachtung durch uns und Henk Visch möchte seine künstlerischen Arbeiten als transzendente Formen verstanden wissen, deren Bindungsqualitäten an ihre Betrachter elementar sind. Es sind Versammlungsstücke, Stücke zum Versammeln, Objekte, durch deren Anwesenheit unser Blick in eine andere Richtung gelenkt wird.
Mag sein, das ist Wunsch oder Traum, mag sein, das ist Gesang oder Pause.

Martin Kreyssig, 2001

Basileus

schwer
drückt
Die Krone
den Kopf
den König
Übelkeit Erbrechen
dem König
sein Kopf
unter der Krone
erdrückt verdrückt;
das Gewicht
drückt
Schweiß Hitze Erbrechen
den König
tiefer in den Thron
Rotes Kissen
durch das Kissen
durch den Stuhl
drückt die Krone
den König
Aufgeben Übergeben
puked on mother’s Boden
dirt on father’s Stuhl;
Schwer
drückt die Krone
drückender König
Stuhlgang und Hoden
Rotes Kissen
in den Mutterboden
Vaters Stuhlbeine
Schlamm Kotze
Lehmboden, gekrönt
glanzvoll
versiegelt.

Milchstrasse 37

All
All
All
immer
im All
im All
im All
alle Tage
im All
alle Tage
immer
im All
im All
alle Tage
alle im All
aller Tage
Alltag
im Overall
im All
alle Tage
immer alle Tage
immer All
immer Tag
im All
im All
Alltag
im Overall
Alltag
alles all
All
All
All

Immersion

Breites Lachen springender Stiefel
Zickzack der Schritte
Schneidige Steinsprünge
Gelenkige Luftzange
Und eins
Volte im Vorwärts
Elektrische Staubflügel
Und zwei
Epos aus Leder
Getier in Maskenblut
Choreografie der Schwingen
Falten Karst Schrund
Und eins
Torso aus Wade und Trizeps
Zickzack der Rotoren
Häutungen im Schnellverfahren
Und zwei
Lehmtide taped blu
Links Landschaft liegen rechts Lügen.

Die Krake oder »Ils ne nous aiment pas!«

Jahr für Jahr diskutierte die Familie des Patron die wild wuchernde Agave, von seinen Kindern die Krake genannt, aus dem Garten ihres Grundstücks auf der Mittelmeerinsel zu entfernen.

Der Patron wollte das Riesending aus dem Weg wissen, enthauptet, herausgerissen mit Stumpf und Stiel. »Ils ne nous aiment pas!«, wiederholte er.

Jahr für Jahr wuchs die Krake breiter und höher, versperrte die Wege, schob Triebe und Wurzeln voran.

Der Patron wurde alt und launisch, während die Krake mächtiger geriet: giftig gelb und rabenschwarz, voll scharfer Spitzen, mit langen Dornen.

Eines frühen Morgens im Sommer riss dem alten Mann der Geduldsfaden. Einmal mehr war die abendliche Diskussion ohne Ergebnis geblieben.
So fiel er mit Hammer und Säge, Axt und Spaten über die Krake her, er schnaubte, schrie, brüllte: »Ils ne nous aiment pas! Ich reiße dir jeden Arm einzeln aus! Ils ne nous aiment pas! Ich grabe dich aus, entwurzele dich, ich schmeiße dich aus meinem Garten! Ils ne nous aiment pas! Ich töte dich!!«

Tag und Nacht wütete der Patron. Er schnitt, riß, hackte und schlug tief in den trockenen Boden. Er bekämpfte die Krake, er gab sein Bestes.
Doch die Pflanze wusste sich zu wehren. Ihre gepanzerte Haut war zäh. Mit Dornen und Zähnen durchlöcherte sie Handschuhe und Kleider des Alten. Er schrie vor Schmerzen. Ihr schweigsamer Widerstand machte den Patron noch rasender.

In der großen Mittagshitze des dritten Tages brach der Patron in den Armen der Krake zusammen. Und sie ließ die alten Knochen ihres Gegenübers nicht mehr los.

Verstümmelt und vernarbt wuchs die Krake wilder und prächtiger jedes Jahr, überwucherte zum Kummer ihrer Besitzer Haus und Hang.
„Ils ne nous aiment pas!“ nennen Einheimische heute das unzugängliche Gelände. Das schließt kunstvoll alle ein und alle aus.