Wie lange benötigt ein Kunstwerk zu entstehen? Auf jeden Fall, zu lange für einen Film. Eine unerträglich lange Dauer für den Spielfilm, der schneiden, Zeiten raffen muss, die Essenz zu finden hat. Der Film muß den einen Augenblick finden und zeigen, der für alle anderen Augenblicke steht, die weniger aufregend sind, die langweilig, die aber wesentlich zur künstlerischen Arbeit gehören.
Das künstlerische Schaffen – Arbeit generell – erscheint unfilmisch. Ausnahmen bilden der Sport im Fernsehen oder die Genres des Western- und Gangsterfilms. Hier wird Arbeit exemplarisch vorgeführt: Planung, Ausführung, Scheitern oder Sieg. Hier können Personen auftreten, die sich mit ihrer Arbeit einen Namen gemacht haben: Mörder, Einbrecher, Detektive. Sie haben eine Biographie, sie haben einen Ruf, der ihnen vorauseilt, sie sind gefürchtet und werden verehrt. Das Publikum möchte zu dieser „Künstlerspezies“ gehören, zu diesen Outcasts, deren Atelier in der Prärie liegt, weit draußen vor der Zivilisation, zurück in der Vorzeit, als man nah an der Erde wohnte und einem ordentlichen Handwerk nachging.
Das Filmessay sucht auf unterhaltsame Weise die Annäherung an den Mythos vom Künstler und seiner Kunst. In Beispielen aus Spiel- und Dokumentarfilmen sowie Filmen von und über Künstler schaut man den Protagonisten über die Schulter und von dort auf die Finger. Die authentische, die falsche, die fälschende, die gefälschte, die heilige und die göttliche Hand.
Gezeigt werden Ausschnitte aus folgenden Filmen: Catching lead, USA 1969, Richard Serra / Hand, D 1992, Martin Kreyßig, Pia Stadtbäumer / Un chien andalou, Frankreich 1929, Luis Bunuel & Salvadore Dali / Die Günstlinge des Mondes, Frankreich 1984, Otar Iossiliani / Pirosmani, UdSSR 1969, Georgi Schengelaja / Das Leben der Bohéme, F/BRD/S/Finn 1991, Aki Kaurismaki / New Yorker Geschichten, USA 1989, Martin Scorsese / Wer hat Angst vor Rot Gelb Blau, BRD 1990, Heiko Schier / Perry Mason und die Kunst des Malens, USA 1991, Christian Nyby / Hans Cürlis – Kunstdokumentarist –, BRD 1990 / Shelters – Zufluchten, D 1993, Martin Kreyßig, Antoni Malinowski / Le mystere de Picasso, Frankreich 1955, Henri G. Cluzot / Die Schöne Querulantin, Frankreich 1990, Jacques Rivette / Immer Ärger mit Harry, USA 1955, Alfred Hitchcock / Paint it Black, USA 1988, Tim Hunter / Mord in der Akademie, BRD 1994, Ulrich Stark / Die Hand, USA 1980, Oliver Stone / Tödliche Bilder, USA 1994, Phedon Papamichael / Fälschungen als hohe Kunst, BRD 1992, Denisce Dilanni / F for Fake, Frankreich 1974, Orson Welles / Der Gefangene von Alcatraz, USA 1961, John Frankenheimer / Das Loch, Frankreich 1960, Jacques Becker / Der Zug, Frankreich, Italien 1963, John Frankenheimer / Pickpocket, Frankreich 1959, Robert Bresson / Markus Lüpertz, 1992 / I-beam music, D 1995, Nicolas Anatol Baginsky, Barry Schwartz, Martin Kreyssig / To live and to die in L.A., USA 1985, William Friedkin / North by Northwest, USA 1959, Alfred Hitchcock.
Die Hand – Kunst und Künstler im Film wurde an neun Kunstorten aufgeführt:
27. April 2003, Galerie der Gegenwart, Hamburg / 16. November 2001 Museum für Moderne Kunst, Frankfurt/M / 12. September 2001, Folkwang Museum Essen / 27. Juni 2001, Kunsthalle zu Kiel / 05. April 2001, Gesellschaft für Aktuelle Kunst, Bremen / 14. Oktober 2000, Kunstmuseum Winterthur / 13. September 2000, Museum Haus Lange – Haus Esters, Krefeld / 04. Mai 2000, Württembergischer Kunstverein / 19. Februar 1999 WienerKunstverein, Wien
»blurred edges – Under Construction & Split Friction« Rede zu Arbeiten von Seiji Morimoto und Birgit Ulher anlässlich der Ausstellungseröffnung am 2.06.2024, Strobreden – Haus für Klangkunst-Enthusiasten, Hamburg
»Split Friction« – Live-Performance des Stücks ‚Public Transport‘ – für Trompete, LPs und Record Runner. Birgit Ulher. Gespräch anlässlich der Publikation des Katalogs Split Friction mit Martin Kreyßig und Birgit Ulher über ihre audiovisuellen Arbeiten am 7.01.2024, Frise e.V. Hamburg
»4:3 — Beckett im Quadrat« Inszenierungen für das Fernsehen – Eine Programmübersicht, 2.06 2017, Westwerk, Hamburg.
ZEIT – Dirigent der Medien und im Alltag. GenerationenHochschule, 03.11.2015, Hochschule Harz, Wernigerode.
Laudatio auf Helmut Morlok und Gunter Demnig. Anlässlich der Verleihung des Lothar-Kreyssig-Friedenspreis 2013 in der Johanniskirche in Magdeburg am 16.11.2013.
Delayed Time – Veränderung des Raum-Zeitkontinuums in digitalen Welten. Anlässlich der WAIT-Tagung 20 Jahre Fachbereich Automatisierung und Informatik am 18.10.2012, Hochschule Harz, Wernigerode.
Von der Faszination des Spiels – Über den Zusammenhang von Spiel, Kultur und Ästhetik. 34. Vorlesung der GenerationenHochschule 05.10.2010, Hochschule Harz, Wernigerode.
Rhetorik und Design: Überlegungen für eine neue Didaktik der Gestaltung. Vortrag anlässlich der Sitzung des Beirats des Studiengangs Medieninformatik, 23.04.2010, Hochschule Harz, Wernigerode.
Kino, Fernsehen, Internet – Erlebnis und Nutzen der Medienkultur. 18. Vorlesung der GenerationenHochschule, 10.02.2009, Hochschule Harz, Wernigerode.
Linear Media in Non-Linear Environements – From E-learning to Essay to Multimedia to IPTV. Methods Network Seminar on Film, Visualisation, Narrative, 17.11.2006, Royal Holloway, University of London.
Akustische Nutzer-, Produkt- und Markenführung. 28.10.2006, Deutscher Multimedia Kongress, Stuttgart.
Film und Architektur – Ort und Konjunktiv. Stadtsalon, Berlin am 04.10.2002.
Von Matrix zu Dürer – Bewegungsdarstellung am Beispiel römischer Reliefs über die Renaissance bis zur „Bullet-Time Photography“ im Film „Matrix“. Kunstakademie Düsseldorf am 16. Juli 2002.
Die Hand – Kunst und Künstler im Film.
Galerie der Gegenwart, Hamburg am 27. April 2003.
Museum für Moderne Kunst, Frankfurt/M am 16. November 2001.
Folkwang Museum, Essen, am 12. September 2001.
Kunsthalle zu Kiel am 27. Juni 2001.
Gesellschaft für Aktuelle Kunst, Bremen am 05. April 2001.
Kunstmuseum Winterthur am 14. Oktober 2000.
Museum Haus Lange / Haus Esters, Krefeld am 13. September 2000.
Württembergischer Kunstverein, Stuttgart am 04. Mai 2000.
WienerKunstverein, Wien am 19. Februar 1999.
Rewind to the Future. Podiumsdiskussion, Bonner Kunstverein am 01. Februar 2000.
Keine Bewegung! Filmsprache als Moderator. Muthesius Hochschule, Kiel am 10. November 1998.
Cinepolis – Architektur im Film, eine essayistische Passage. Hochschule für Bildende Künste, Hamburg, im Auftrag des BDA – Bund Deutscher Architekten am 29. Februar 1996.
Phantasie für die Wahrheit des Realen. Van Abbemuseum, Eindhoven am 18. August 1991.
Festrede von Prof. Martin Kreyßig anlässlich der feierlichen Verabschiedung der Absolventinnen und Absolventen am Fachbereich Automatisierung und Informatik der Hochschule Harz in Wernigerode am 25.11.2022
Liebe Absolventinnen und Absolventen, liebe Eltern und Freunde, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Anlässlich der Verabschiedung der Absolventinnen und Absolventen von der Hochschule Harz kommt mir die Freude zu, eine Rede zu halten. Thema? Zukunft.
Zukunft nennen wir die Zeit, die auf der linearen Zeitachse
vor uns liegt. Der deutsche Begriff leitet sich aus dem Verb „zu-kommen“ ab,
meint also, das auf uns Zukommende. Andere europäische Sprachen nennen diese
Zeit ‚Future‘ oder ’futuro‘. Der Begriff leitet sich aus dem Lateinischen
‚futurum‘ ab und bedeutet: „was sein wird“.
Spannend klingt auch die altgriechische Variante, hier interpretiert
der Begriff [to loipon] Zukunft als „Rest“ der Zeit.
Die Sache mit der Zeit ist nicht einfach. Wie kann die Zeit
einerseits wie ein Pfeil fliegen, während sie sich auf der Armbanduhr im Kreis bewegt?
Das Ziffernblatt erzählt von zyklischer Zeit. Hier
kommt die Zeit daher wie die Jahreszeiten, der zu- und abnehmende Mond, ein
Loop in der Musik – Ereignisse, die sich regelmäßig wiederholen.
Uhren oder der heute noch gültige gregorianische Kalender aus
dem 16. Jahrhundert, Kirchenglocken, die zur Messe rufen, die Tagesschau oder
Serien – sind programmierte Kreisläufe, die dem Publikum einen sicheren Rhythmus
bieten. Die sogenannte Programmzeit vermittelt uns Gewissheit über erwartbare
Ereignisse. Die Vorlesungen beginnen um 8 Uhr und dauern 90 Minuten. Zukunft ist
planbar.
Das Internet kennt keine Programmzeit. Die Nutzer:innen
agieren asymmetrisch. Angebote und Suche treffen irgendwann aufeinander oder
nicht. Das Internet ist ein Raum mit unendlich vielen vernetzten
Gleichzeitigkeiten.
Die Grundgesetze der Thermodynamik und der Quantenmechanik lehren,
Stichwort: Relativität, dass die Zeit abhängig vom Punkt der Beobachtung in
keiner Weise gerichtet verläuft. Denn die Gravitationswirkung großer Massen beeinflusst
die Zeit.
So arbeiten die Wissenschaften mit zwei Modellen:
Das eindimensionale lineare, empirische Modell interpretiert
Zeit als subjektives Erleben, nennen wir es »Fluss der Zeit« mit den Relationen
früher/später.
Das andere, kosmologische Modell eines expandierenden
Universums sieht Zeit als eine relative Konstante. Achten Sie am 10. Dezember einmal
darauf, für welche Leistungen drei Forscher mit dem diesjährigen Nobelpreis für
Physik geehrt werden. Stichwort: Quantencomputer.
Schauen wir in die Sterne. Bereits vor 2.500 Jahren deuteten griechische Philosophen die Perioden der kosmischen Bewegungen am Sternenhimmel als ein Zeichen der Unendlichkeit der Welt. Noch davor versteckte sich für Babylonier und Ägypter in Astronomie und Astrologie eine Art Zukunftswissen. Die Zukunft wurde von Propheten, Orakeln und Druiden interpretiert, sie stellten Prognosen für die Zukunft.
Seit jeher machen sich Menschen Sorgen um das auf sie Zu-kommende.
Wie werden wir in zehn Jahren leben? Bleiben wir gesund? Steht die Welt schon
bald in Flammen? Und seit jeher werden Antworten auf diese Fragen angeboten.
Zukunft als Schicksal?
Wenn wir die Sterne betrachten, schauen wir tief in die
Vergangenheit, denn das Licht braucht eine sehr lange Zeit, bis es uns erreicht.
Um die Raumgröße zu verstehen, vergleichen wir zwei Zahlen unterschiedlicher
Einheiten: Das Licht benötigt von der Sonne zur Erde etwa 8,5 Minuten. Das
Licht von dem uns nächst gelegenen Stern Proxima Centauri benötigt zur
Erde etwa 4,3 Lichtjahre. Astrophysiker schauen in die Vergangenheit und stellen
Annahmen auf, welche Zukunft die Vergangenheit erwartet.
Wir sind es mithin gewohnt zurückzublicken, um die Zukunft besser
zu verstehen. Wir sollten nicht in die Zukunft gehen, ohne Gegenwart und
Vergangenheit studiert zu haben. Die Zukunft lässt sich nicht ohne das
Verständnis der Vergangenheit gestalten. Wir müssen wissen, woher wir kommen, um
zu verstehen, wohin wir gehen.
Für Studierende ist es manchmal langweilig, weil die Frauen
und Männer da vorne am Pult im Hörsaal, die immerzu sprechen, scheinbar alles
besser wissen. Sie teilen ihr Wissen, ihre Erfahrungen den Jüngeren mit. Dafür
wurden Schulen und Universitäten gegründet. Es sind Wissensspeicher.
Zukünftige Wege basieren auf Erfahrungen und Kenntnissen.
Jedes universitäre Fach betreibt Zukunftsforschung, in
sämtlichen Wissenschaften werden Prognosen entwickelt und diskutiert. Wir
schreiben Trendanalysen mit explanativen Methoden, versuchen mittels Stochastik
die Zukunft vorherzusagen. Strukturanalysen, Szenarien, Simulationen sollen
Licht ins Dunkel tragen, sollen nachvollziehbare Fundamente für unsere Entscheidungen
schaffen. Objektive Entscheidungen für langfristige Strategien.
All diese Verfahren möchte ich Projektionstechniken
nennen. Die Herkunft des Begriffs »projizieren« meint: »vorwärtswerfen, hervortreten
lassen«.
In Platons Höhlengleichnis wird dem Publikum ein
Schattenspiel projiziert. Das Kino nutzt den Projektor als Bilderwerfer.
Ein studentisches Projekt z.B. ist ein in die Zukunft
projiziertes, zeitlich begrenztes Vorhaben. Ein Projekt schiebt sich Schritt-für-Schritt
aus der Gegenwart hinein in die Zukunft. In Projekten »entwerfen wir aus
Möglichkeiten Wirklichkeiten« [V. Flusser: Digitaler Schein, 1991].
Zukunft als Fortschritt?
Der russische [sowjetische] Spielfilm „Stalker“ von Andrej Tarkowskij ist eine Reise zu einem Zimmer, der »Rückblick auf eine Zukunftsvision«. Stalker, die Hauptfigur, Kundschafter und Reiseführer, wirft Schraubenmuttern mit weißen Mullbinden bebändert als Wegmarkierungen. Er sucht mit seinen zufälligen Würfen eine Route – weil es keinen Weg gibt. Seine Wurfgeschosse funktionieren als Projektile, sie entwerfen eine Richtung, der die drei Figuren des Films nach-gehen. So tastet sich die Gruppe bis ins Innere einer menschenleeren Gegend vor und erkundet deren rätselhaften, paradoxen Erscheinungen.
Zukunft als Traum?
Zukunft meint Projektion und Zukunft meint Exploration. Für
die Reise ins Unbekannte rüsten wir uns mit Wissen aus Gegenwart und Vergangenheit.
Wir haben kein anderes Gepäck. Wir können nur ausprobieren, scheitern, erneut versuchen,
und lernen. All unser Handeln ist davon geprägt, die Zukunft in kleinen Schritten
zu betreten.
Dabei wird auch heutzutage die Zukunft von »Seherinnen und
Sehern« gedeutet. Sterndeuter, Kaiser und Könige, Theologen, Päpste, Philosophen
und Politiker, Futurologen, Wahrsagern und Verfasser von Horoskopen.
Seit Thomas Morus 1516 das Werk „Vom besten Zustand des Staates und über die neue Insel Utopia“ veröffentlicht hat, gehören auch die Künstler:innen zu den Propheten. Eine Utopie, altgriechisch U-topos, ein Nirgendsland ist eine Projektion, um die Gegenwart zu kritisieren. Schriftsteller:innen greifen zur Utopie, wenn ihnen für die Wahrheit Gefängnis oder der Tod droht. Also projizieren sie aus ihrer bedrückenden Gegenwart eine fern gelegene Insel, auf der ein idealer Zustand menschlichen Zusammenlebens konstruiert ist.
Zukunft als Utopie?
Der amerikanische Spielfilm „Soylent Green“ von Richard Fleischer aus dem Jahr 1972 trägt den deutschen Titel: »… Jahr 2022 … die überleben wollen«. Das New York des Jahres 2022 ist kein wirklich freundliches Utopia, eher die dystopische Umkehrung. Ich werde das Ende nicht spoilern, doch soviel sei gesagt:
Sämtliche Zukunftsstudien, ob „Die Grenzen des Wachstums“ für den ‚Club of Rome‘ 1972, der Bericht der ‚Nord-Süd-Kommission‘ oder „Global 2000“ stecken im Drehbuch schon drin. Der Film lohnt sich, projiziert er doch die Sorgen, Ängste und Befürchtungen aus den 1970er Jahren um 50 Jahre in die Zukunft, in unsere Gegenwart, das Jahr 2022.
Zukunft als Katastrophe?
Zukunft ist ein flüchtiger, auch ein dramatischer Stoff, mit
dem wir uns recht quälen. In den Wissenschaften, in Parlamenten und am
Küchentisch stellen wir uns die Zukunft vor. Wir entwerfen von ihr ein vages
Bild. Sobald wir eine Ahnung oder Meinung zur Zukunft haben, antizipieren wir sie,
versuchen uns ihr anzupassen, wie man sich in eine zu eng geschnittene Jacke
zwängt. Oder wir lehnen uns gegen diese Zukunft auf, verweigern uns
prophetischen Vorhersagen, lehnen wissenschaftlich belegte Ergebnisse ab.
Zukunft als »blühende Landschaften«?
Vor uns steht ein bis zur Hälfte geleertes Wasserglas. Die erste
Hälfte haben wir getrunken, der Körper fühlt sich wohl. Ist das Wasserglas
halbvoll oder halbleer?
Einige tendieren dazu, das Glas als halbvoll zu betrachten.
Sie freuen sich auf die zweite Hälfte, die sie gleich trinken werden. Hey,
immerhin ein halbvolles Glas!
Andere betrachten die Situation weniger entspannt. Ein
halbleeres Glas deutet augenscheinlich darauf hin, dass auch die zweite Hälfte
bald ausgetrunken sein wird.
Helle oder dunkle Zukunft?
Ich zitiere gerne den Dramatiker Heiner Müller mit seinem prophetischen Satz: »Optimismus ist Mangel an Information.«
Das zukünftige Dunkel hält alle Antworten in den Händen. Die
Zukunft besteht ausschließlich aus Informationen, die wir nicht kennen.
Sie offenbart sich nur scheibchenweise. Und darüber sind wir
ein kleinwenig beleidigt. Die Zukunft ist eine eitle, hochnäsige, arrogante
Figur. Statt einfach zu sagen, was morgen abgeht, schweigt sie.
Was bleibt uns? Wir träumen, wir hoffen. Wir malen uns eine
Zukunft aus.
Aber steuern nicht wir das Schiff der Zivilisation?
Sind nicht wir für unsere Handlungen selbst verantwortlich? Drei
Beispiele:
Wir wissen, dass schwach- und mittelradioaktive Abfälle nach 500 Jahren nicht gefährlicher sind als Phosphatdünger. Nach rund 30.000 Jahren haben sie die gleiche strahlungsbedingte Giftigkeit wie Granitgestein. Na also, geht doch. Klare Prognose! Welche Schlüsse ziehen wir daraus? Welche Entscheidungen fällen wir für die nachfolgenden Generationen?
Meine Studierenden haben einen wunderschönen Kurzfilm gedreht. In einer Szene tanzt eine Plastiktüte im Wind. Wir wissen, dass Micropartikel dieser Plastiktüte noch in 450 Jahren tanzen – im Ozean. Die anderen bunten Partikelchen haben sich in unseren Ur-ur-ur-enkeln eingelagert. Reines Zukunftswissen.
8 Milliarden Menschen leben nun auf der Erde. Was für eine Herausforderung! Aber, und ich zitiere Frank Swiaczny, Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Demographie. [Zitat: Tagesspiegel, 14.11.2022, S. 2]: »Das Problem ist nicht Überbevölkerung, sondern Überkonsum.«
Liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen, wir wissen einiges
über die Zukunft. Und wir können sie durch unser Verhalten beeinflussen, jeder
einzelne von uns.
Zukunft ist, was wir daraus machen.
Gegenwärtig erleben wir in unserem europäischen Haus wie die nähere
Zukunft durch böse machthungrige Männer vergiftet wird, so dass wir umdenken
und anders planen müssen. Wir gestalten die Situation, und in gewisser Weise passen
wir uns an. Und in Anpassungsleistungen ist der Mensch gut trainiert, auch wenn
diese Anpassungsprozesse langsam ablaufen. In jeder neuen gesellschaftspolitischen
Situation versuchen wir in einem veränderten, sich beständig verändernden
Habitat unseren Platz zu finden.
Zukunft als Egoismus?
Nach diesem Festakt, liebe Studierende, werden Sie als Absolvent:innen
in die Welt ziehen und diese Welt verändern. Sie werden die Zukunft verändern. Ich
hoffe, Sie werden klug und gewissenhaft, kollaborativ und solidarisch handeln,
und machen diese Welt, unser Gemeinwesen mit ihrem Engagement ein Stückchen
besser, friedlicher, bewohnbarer.
Dazu sollten Sie einander gut zuhören und miteinander
sprechen.
Ich möchte Sie ermutigen, Ihre Meinung immer mit Courage zu
vertreten, dabei offen, flexibel zu sein, besonders, um in Krisen und
Konflikten Kompromisse zu finden. Das heißt, Sie werden immer wieder von einer
projizierten Richtung abweichen müssen, um im Konsens mit anderen eine gemeinsame
neue Richtung zu finden. Dabei helfen Ihnen Modelle, Projektionen, Simulationen
– Wissen hilft.
Wir projizieren Ahnungen, Annahmen, Träume, Möglichkeiten,
wir projizieren unser Wissen in die Zukunft. Gleichzeitig – und ich möchte das
betonen – legt sich die Zukunft wie von selbst, wie ein Mantel um die
Schultern: Ein ewig neuer Stoff aus Freude, Glück, Liebe und wundersamen Überraschungen.
Der Filmregisseur Werner Herzog hat gerade seine Memoiren vorgelegt. Herzog hat u.a. „Fitzcarraldo“ mit Klaus Kinski, oder „Grizzly Man“ gedreht. Er ist weltweit einer der außergewöhnlichsten Filmemacher. Seine Lebenserinnerungen enden mit einem Satz, der einfach abbricht. Herzog schreibt im Vorwort, während des Schreibens sei ein kupfern und hellgrün glänzender Kolibri wie ein Projektil auf ihn zugeschossen [aus: W. Herzog, Jeder für sich und Gott gegen alle, München 2022, S. 10]. Herzog entschloss sich in diesem Moment nicht weiterzuschreiben: »Der letzte Satz bricht einfach dort ab, wo ich gerade angekommen war.«
Ich wünsche Ihnen für die Zukunft alles Gute! Bleiben Sie
neugierig!
Eine Programmübersicht in Vortragsform von Martin Kreyßig, gehalten am 2. Juni 2017 im Westwerk e.V. Hamburg
Samuel Becketts (1906-1989) televisions plays sind hoch formalisierte Inszenierungen, die das Medium Fernsehen und das Genre Fernsehspiel mit einem Minimum an Narration an seine Grenzen führen.
Am Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart konnte Beckett zwischen 1966 und 1986 sechs Stücke realisieren. Die Mittel des Fernsehens auf wesentliche Aussagen reduziert – Aufbau und Ablauf der Choreographien erinnern an naturwissenschaftliche Versuche – konzentrieren sich die Arbeiten auf den Körper und die Aufzeichnung der Handlungen ohne technische Finessen: Stimme, Schweigen, Verschwinden. Sämtliche Fragmente erzeugen mit ihrer Kombinatorik eine Geometrie des Rituals, ein musikalisches Ritornell.
Der französische Philosoph Gilles Deleuze hält in seinem Essay „Erschöpft“ (1992) diese Fernseharbeiten für die Essenz der Entwicklung des Dichters, Dramatikers und Nobelpreisträgers: „Es ist, als ob man gleichzeitig ein Hörspiel und einen Stummfilm vorführte.“
Der Vortrag bietet eine Programmübersicht über das filmische Werk von S. Beckett, zeigt Ausschnitte und verknüpft die Arbeiten mit künstlerischen Positionen seiner Zeit.
Rede von Martin Kreyssig zu Werken von Anne Schwalbe, gehalten anlässlich der Eröffnung ihrer Ausstellung ALLES am 17. Oktober 2013 im MUSEUM SCHIEFES HAUS in Wernigerode.