Martin Kreyssig was born in Cologne in 1960 and has lived in Hamburg since 1989. From 1980 to 1983 he studied at the Kunstakademie Düsseldorf under Karl Kneidl, Nam June Paik, among others, and from 1983 to 1987 at the Deutsche Film- und Fernsehakademie in Berlin (dffb). Since 1985 he has worked as a freelance director, author and cinematographer. Some of his films are in collections at the Museum für Moderne Kunst in Frankfurt/Main, the Hamburger Kunsthalle and the Center Georges-Pompidou in Paris. From 2002 until his retirement in 2024, he worked as a university professor for digital moving image at the Harz University of Applied Sciences in Wernigerode.
Die Videodokumentation (1991/ 97, Länge 13 Min) behandelt die Einzelausstellung des Künstlers Thomas Schütte (*1954), die 1990 im Van Abbemuseum Eindhoven.
Entsprechend der Ausstellungskonzeption, wurde für den Film eine Kapitelstruktur gewählt, die der unterschiedlichen „Ausstattung“ der Museumsräume mit Skulpturen, Bildern und Zeichnungen entsprach. So ist jedem Raum eine spezielle Kamera- oder Schnittechnik zugeordnet, die – unterstützt von der Musikgruppe RED ANT FEET – das Werk der 1980er Jahre des Künstlers vorstellt.
Animationsfilm, der in Zusammenarbeit mit den Künstlern entstanden ist. Filzige Tiere, Aluminiumfiguren, ein akustischer Ausschnitt aus der Geschichte des Krieges in anderthalb Minuten, schließlich die Ausstellung in der Lisson Gallery: Arche Noah im Weltraum.
„Them and Us“ by Martin Kreyssig on Vimeo which accompanied ‘Them & Us’ exhibition at the Lisson Gallery, London, 1995.
Produced by Richard Deacon, Thomas Schütte and Martin Kreyssig as an advert for the exhibition to be broadcast on television. Published by Lisson Gallery, London.
Festrede von Prof. Martin Kreyßig anlässlich der feierlichen Verabschiedung der Absolventinnen und Absolventen am Fachbereich Automatisierung und Informatik der Hochschule Harz in Wernigerode am 25.11.2022
Liebe Absolventinnen und Absolventen, liebe Eltern und Freunde, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Anlässlich der Verabschiedung der Absolventinnen und Absolventen von der Hochschule Harz kommt mir die Freude zu, eine Rede zu halten. Thema? Zukunft.
Zukunft nennen wir die Zeit, die auf der linearen Zeitachse
vor uns liegt. Der deutsche Begriff leitet sich aus dem Verb „zu-kommen“ ab,
meint also, das auf uns Zukommende. Andere europäische Sprachen nennen diese
Zeit ‚Future‘ oder ’futuro‘. Der Begriff leitet sich aus dem Lateinischen
‚futurum‘ ab und bedeutet: „was sein wird“.
Spannend klingt auch die altgriechische Variante, hier interpretiert
der Begriff [to loipon] Zukunft als „Rest“ der Zeit.
Die Sache mit der Zeit ist nicht einfach. Wie kann die Zeit
einerseits wie ein Pfeil fliegen, während sie sich auf der Armbanduhr im Kreis bewegt?
Das Ziffernblatt erzählt von zyklischer Zeit. Hier
kommt die Zeit daher wie die Jahreszeiten, der zu- und abnehmende Mond, ein
Loop in der Musik – Ereignisse, die sich regelmäßig wiederholen.
Uhren oder der heute noch gültige gregorianische Kalender aus
dem 16. Jahrhundert, Kirchenglocken, die zur Messe rufen, die Tagesschau oder
Serien – sind programmierte Kreisläufe, die dem Publikum einen sicheren Rhythmus
bieten. Die sogenannte Programmzeit vermittelt uns Gewissheit über erwartbare
Ereignisse. Die Vorlesungen beginnen um 8 Uhr und dauern 90 Minuten. Zukunft ist
planbar.
Das Internet kennt keine Programmzeit. Die Nutzer:innen
agieren asymmetrisch. Angebote und Suche treffen irgendwann aufeinander oder
nicht. Das Internet ist ein Raum mit unendlich vielen vernetzten
Gleichzeitigkeiten.
Die Grundgesetze der Thermodynamik und der Quantenmechanik lehren,
Stichwort: Relativität, dass die Zeit abhängig vom Punkt der Beobachtung in
keiner Weise gerichtet verläuft. Denn die Gravitationswirkung großer Massen beeinflusst
die Zeit.
So arbeiten die Wissenschaften mit zwei Modellen:
Das eindimensionale lineare, empirische Modell interpretiert
Zeit als subjektives Erleben, nennen wir es »Fluss der Zeit« mit den Relationen
früher/später.
Das andere, kosmologische Modell eines expandierenden
Universums sieht Zeit als eine relative Konstante. Achten Sie am 10. Dezember einmal
darauf, für welche Leistungen drei Forscher mit dem diesjährigen Nobelpreis für
Physik geehrt werden. Stichwort: Quantencomputer.
Schauen wir in die Sterne. Bereits vor 2.500 Jahren deuteten griechische Philosophen die Perioden der kosmischen Bewegungen am Sternenhimmel als ein Zeichen der Unendlichkeit der Welt. Noch davor versteckte sich für Babylonier und Ägypter in Astronomie und Astrologie eine Art Zukunftswissen. Die Zukunft wurde von Propheten, Orakeln und Druiden interpretiert, sie stellten Prognosen für die Zukunft.
Seit jeher machen sich Menschen Sorgen um das auf sie Zu-kommende.
Wie werden wir in zehn Jahren leben? Bleiben wir gesund? Steht die Welt schon
bald in Flammen? Und seit jeher werden Antworten auf diese Fragen angeboten.
Zukunft als Schicksal?
Wenn wir die Sterne betrachten, schauen wir tief in die
Vergangenheit, denn das Licht braucht eine sehr lange Zeit, bis es uns erreicht.
Um die Raumgröße zu verstehen, vergleichen wir zwei Zahlen unterschiedlicher
Einheiten: Das Licht benötigt von der Sonne zur Erde etwa 8,5 Minuten. Das
Licht von dem uns nächst gelegenen Stern Proxima Centauri benötigt zur
Erde etwa 4,3 Lichtjahre. Astrophysiker schauen in die Vergangenheit und stellen
Annahmen auf, welche Zukunft die Vergangenheit erwartet.
Wir sind es mithin gewohnt zurückzublicken, um die Zukunft besser
zu verstehen. Wir sollten nicht in die Zukunft gehen, ohne Gegenwart und
Vergangenheit studiert zu haben. Die Zukunft lässt sich nicht ohne das
Verständnis der Vergangenheit gestalten. Wir müssen wissen, woher wir kommen, um
zu verstehen, wohin wir gehen.
Für Studierende ist es manchmal langweilig, weil die Frauen
und Männer da vorne am Pult im Hörsaal, die immerzu sprechen, scheinbar alles
besser wissen. Sie teilen ihr Wissen, ihre Erfahrungen den Jüngeren mit. Dafür
wurden Schulen und Universitäten gegründet. Es sind Wissensspeicher.
Zukünftige Wege basieren auf Erfahrungen und Kenntnissen.
Jedes universitäre Fach betreibt Zukunftsforschung, in
sämtlichen Wissenschaften werden Prognosen entwickelt und diskutiert. Wir
schreiben Trendanalysen mit explanativen Methoden, versuchen mittels Stochastik
die Zukunft vorherzusagen. Strukturanalysen, Szenarien, Simulationen sollen
Licht ins Dunkel tragen, sollen nachvollziehbare Fundamente für unsere Entscheidungen
schaffen. Objektive Entscheidungen für langfristige Strategien.
All diese Verfahren möchte ich Projektionstechniken
nennen. Die Herkunft des Begriffs »projizieren« meint: »vorwärtswerfen, hervortreten
lassen«.
In Platons Höhlengleichnis wird dem Publikum ein
Schattenspiel projiziert. Das Kino nutzt den Projektor als Bilderwerfer.
Ein studentisches Projekt z.B. ist ein in die Zukunft
projiziertes, zeitlich begrenztes Vorhaben. Ein Projekt schiebt sich Schritt-für-Schritt
aus der Gegenwart hinein in die Zukunft. In Projekten »entwerfen wir aus
Möglichkeiten Wirklichkeiten« [V. Flusser: Digitaler Schein, 1991].
Zukunft als Fortschritt?
Der russische [sowjetische] Spielfilm „Stalker“ von Andrej Tarkowskij ist eine Reise zu einem Zimmer, der »Rückblick auf eine Zukunftsvision«. Stalker, die Hauptfigur, Kundschafter und Reiseführer, wirft Schraubenmuttern mit weißen Mullbinden bebändert als Wegmarkierungen. Er sucht mit seinen zufälligen Würfen eine Route – weil es keinen Weg gibt. Seine Wurfgeschosse funktionieren als Projektile, sie entwerfen eine Richtung, der die drei Figuren des Films nach-gehen. So tastet sich die Gruppe bis ins Innere einer menschenleeren Gegend vor und erkundet deren rätselhaften, paradoxen Erscheinungen.
Zukunft als Traum?
Zukunft meint Projektion und Zukunft meint Exploration. Für
die Reise ins Unbekannte rüsten wir uns mit Wissen aus Gegenwart und Vergangenheit.
Wir haben kein anderes Gepäck. Wir können nur ausprobieren, scheitern, erneut versuchen,
und lernen. All unser Handeln ist davon geprägt, die Zukunft in kleinen Schritten
zu betreten.
Dabei wird auch heutzutage die Zukunft von »Seherinnen und
Sehern« gedeutet. Sterndeuter, Kaiser und Könige, Theologen, Päpste, Philosophen
und Politiker, Futurologen, Wahrsagern und Verfasser von Horoskopen.
Seit Thomas Morus 1516 das Werk „Vom besten Zustand des Staates und über die neue Insel Utopia“ veröffentlicht hat, gehören auch die Künstler:innen zu den Propheten. Eine Utopie, altgriechisch U-topos, ein Nirgendsland ist eine Projektion, um die Gegenwart zu kritisieren. Schriftsteller:innen greifen zur Utopie, wenn ihnen für die Wahrheit Gefängnis oder der Tod droht. Also projizieren sie aus ihrer bedrückenden Gegenwart eine fern gelegene Insel, auf der ein idealer Zustand menschlichen Zusammenlebens konstruiert ist.
Zukunft als Utopie?
Der amerikanische Spielfilm „Soylent Green“ von Richard Fleischer aus dem Jahr 1972 trägt den deutschen Titel: »… Jahr 2022 … die überleben wollen«. Das New York des Jahres 2022 ist kein wirklich freundliches Utopia, eher die dystopische Umkehrung. Ich werde das Ende nicht spoilern, doch soviel sei gesagt:
Sämtliche Zukunftsstudien, ob „Die Grenzen des Wachstums“ für den ‚Club of Rome‘ 1972, der Bericht der ‚Nord-Süd-Kommission‘ oder „Global 2000“ stecken im Drehbuch schon drin. Der Film lohnt sich, projiziert er doch die Sorgen, Ängste und Befürchtungen aus den 1970er Jahren um 50 Jahre in die Zukunft, in unsere Gegenwart, das Jahr 2022.
Zukunft als Katastrophe?
Zukunft ist ein flüchtiger, auch ein dramatischer Stoff, mit
dem wir uns recht quälen. In den Wissenschaften, in Parlamenten und am
Küchentisch stellen wir uns die Zukunft vor. Wir entwerfen von ihr ein vages
Bild. Sobald wir eine Ahnung oder Meinung zur Zukunft haben, antizipieren wir sie,
versuchen uns ihr anzupassen, wie man sich in eine zu eng geschnittene Jacke
zwängt. Oder wir lehnen uns gegen diese Zukunft auf, verweigern uns
prophetischen Vorhersagen, lehnen wissenschaftlich belegte Ergebnisse ab.
Zukunft als »blühende Landschaften«?
Vor uns steht ein bis zur Hälfte geleertes Wasserglas. Die erste
Hälfte haben wir getrunken, der Körper fühlt sich wohl. Ist das Wasserglas
halbvoll oder halbleer?
Einige tendieren dazu, das Glas als halbvoll zu betrachten.
Sie freuen sich auf die zweite Hälfte, die sie gleich trinken werden. Hey,
immerhin ein halbvolles Glas!
Andere betrachten die Situation weniger entspannt. Ein
halbleeres Glas deutet augenscheinlich darauf hin, dass auch die zweite Hälfte
bald ausgetrunken sein wird.
Helle oder dunkle Zukunft?
Ich zitiere gerne den Dramatiker Heiner Müller mit seinem prophetischen Satz: »Optimismus ist Mangel an Information.«
Das zukünftige Dunkel hält alle Antworten in den Händen. Die
Zukunft besteht ausschließlich aus Informationen, die wir nicht kennen.
Sie offenbart sich nur scheibchenweise. Und darüber sind wir
ein kleinwenig beleidigt. Die Zukunft ist eine eitle, hochnäsige, arrogante
Figur. Statt einfach zu sagen, was morgen abgeht, schweigt sie.
Was bleibt uns? Wir träumen, wir hoffen. Wir malen uns eine
Zukunft aus.
Aber steuern nicht wir das Schiff der Zivilisation?
Sind nicht wir für unsere Handlungen selbst verantwortlich? Drei
Beispiele:
Wir wissen, dass schwach- und mittelradioaktive Abfälle nach 500 Jahren nicht gefährlicher sind als Phosphatdünger. Nach rund 30.000 Jahren haben sie die gleiche strahlungsbedingte Giftigkeit wie Granitgestein. Na also, geht doch. Klare Prognose! Welche Schlüsse ziehen wir daraus? Welche Entscheidungen fällen wir für die nachfolgenden Generationen?
Meine Studierenden haben einen wunderschönen Kurzfilm gedreht. In einer Szene tanzt eine Plastiktüte im Wind. Wir wissen, dass Micropartikel dieser Plastiktüte noch in 450 Jahren tanzen – im Ozean. Die anderen bunten Partikelchen haben sich in unseren Ur-ur-ur-enkeln eingelagert. Reines Zukunftswissen.
8 Milliarden Menschen leben nun auf der Erde. Was für eine Herausforderung! Aber, und ich zitiere Frank Swiaczny, Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Demographie. [Zitat: Tagesspiegel, 14.11.2022, S. 2]: »Das Problem ist nicht Überbevölkerung, sondern Überkonsum.«
Liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen, wir wissen einiges
über die Zukunft. Und wir können sie durch unser Verhalten beeinflussen, jeder
einzelne von uns.
Zukunft ist, was wir daraus machen.
Gegenwärtig erleben wir in unserem europäischen Haus wie die nähere
Zukunft durch böse machthungrige Männer vergiftet wird, so dass wir umdenken
und anders planen müssen. Wir gestalten die Situation, und in gewisser Weise passen
wir uns an. Und in Anpassungsleistungen ist der Mensch gut trainiert, auch wenn
diese Anpassungsprozesse langsam ablaufen. In jeder neuen gesellschaftspolitischen
Situation versuchen wir in einem veränderten, sich beständig verändernden
Habitat unseren Platz zu finden.
Zukunft als Egoismus?
Nach diesem Festakt, liebe Studierende, werden Sie als Absolvent:innen
in die Welt ziehen und diese Welt verändern. Sie werden die Zukunft verändern. Ich
hoffe, Sie werden klug und gewissenhaft, kollaborativ und solidarisch handeln,
und machen diese Welt, unser Gemeinwesen mit ihrem Engagement ein Stückchen
besser, friedlicher, bewohnbarer.
Dazu sollten Sie einander gut zuhören und miteinander
sprechen.
Ich möchte Sie ermutigen, Ihre Meinung immer mit Courage zu
vertreten, dabei offen, flexibel zu sein, besonders, um in Krisen und
Konflikten Kompromisse zu finden. Das heißt, Sie werden immer wieder von einer
projizierten Richtung abweichen müssen, um im Konsens mit anderen eine gemeinsame
neue Richtung zu finden. Dabei helfen Ihnen Modelle, Projektionen, Simulationen
– Wissen hilft.
Wir projizieren Ahnungen, Annahmen, Träume, Möglichkeiten,
wir projizieren unser Wissen in die Zukunft. Gleichzeitig – und ich möchte das
betonen – legt sich die Zukunft wie von selbst, wie ein Mantel um die
Schultern: Ein ewig neuer Stoff aus Freude, Glück, Liebe und wundersamen Überraschungen.
Der Filmregisseur Werner Herzog hat gerade seine Memoiren vorgelegt. Herzog hat u.a. „Fitzcarraldo“ mit Klaus Kinski, oder „Grizzly Man“ gedreht. Er ist weltweit einer der außergewöhnlichsten Filmemacher. Seine Lebenserinnerungen enden mit einem Satz, der einfach abbricht. Herzog schreibt im Vorwort, während des Schreibens sei ein kupfern und hellgrün glänzender Kolibri wie ein Projektil auf ihn zugeschossen [aus: W. Herzog, Jeder für sich und Gott gegen alle, München 2022, S. 10]. Herzog entschloss sich in diesem Moment nicht weiterzuschreiben: »Der letzte Satz bricht einfach dort ab, wo ich gerade angekommen war.«
Ich wünsche Ihnen für die Zukunft alles Gute! Bleiben Sie
neugierig!
Strukturwandel, 2005 von Olafur Gislason im Cuxhavener Kunstverein.
Videodokumentation einer Performance in der Bühne am Nordseekai in Cuxhaven 2005 im Rahmen der Gruppenausstellung „A WHITER SHADE OF PALE“ – Kunst aus den Nordischen Ländern an der Unterelbe.
Olafur Gislason: „STRUKTURWANDEL“ Cuxhaven von Nina Möntmann
Die Fischerei prägt das Stadtbild von Cuxhaven. Ungebrochen baut die Touristikbranche auf diesem Image auf. Ungebrochen und ungeachtet der Tatsache, dass sich die technischen und ökonomischen Bedingungen sowie die politischen und sozialen Realitäten drastisch verschoben haben: ein „Strukturwandel“, wie es der Titel der Arbeit Olafur Gislasons benennt. Der Blick auf den Hafen als Produktionsstätte täuscht. Die Fische werden hauptsächlich anderswo gefangen. Als Hauptumschlagplatz in Deutschland fungiert inzwischen der Frankfurter Flughafen. Fisch wird auf dem Landweg, zum Beispiel aus Dänemark und Norwegen zur Weiterverarbeitung nach Cuxhaven gebracht. Dort sitzen lediglich jene Firmen, die den Hering marinieren und in Gläser abfüllen, oder Fischmehl herstellen, was die Vorstellung von Fisch als lokalem Produkt illusionär erscheinen lässt.
Gislasons Arbeit besteht aus mehreren aufeinander verweisenden Teilen: Zunächst führte er Interviews mit Krabbenfischern, Kapitänen des Hochseefischfangs, mit einem Fischhändler und den Chefs der größten Fischfangfirmen. Die editierten Gespräche werden in einem Monolog zusammengefasst von einem Schauspieler gesprochen. Der Monolog ist in einem, von Gislason entwickelten Bühnenhäuschen auf dem Nordseekai zu hören. Nur der äußere Bereich des Objekts ist für das Publikum begehbar. Durch vier Fenster auf verschiedenen Ebenen kann man eine Akrobatin betrachten, die den inneren Raum, den eigentlichen Bühnenraum, bespielt.
Gleichzeitig sind im Kunstverein Zeichnungen und Aquarelle Gislasons zu sehen, unterschiedliche, teils assoziative Verbildlichungen der prekären Lage der Cuxhavener Fischindustrie. Während seiner Recherche vor Ort entdeckte Gislason im Cuxhavener Fischereimuseum die Figur eines Seemanns, die er für die Dauer der Ausstellung ebenfalls in den Kunstverein stellt. Die als Seemann hergerichtete Schaufensterpuppe im Museum sieht Gislason als Symbol für die Musealisierung, die den Niedergang der Fischerei spiegelt. Im Gegenzug wird im Fischereimuseum ein Video gezeigt, das den Ausflug der Figur in den Kunstverein dokumentiert.
Gislason verwendet in „Strukturwandel“ Motive und Vorgehensweisen, die sich auch in seinen vorherigen Projekten finden und sich als roter Faden durch seine Arbeit ziehen: Partizipation, Narration, Räume, Displays und Metaphern.
PARTIZIPATION
In früheren Projekten forderte Gislason vielfach die Besucher eines bestimmten Ortes auf, als künstlerisch geltende Produkte wie Zeichnungen oder Texte zu hinterlassen. So konnten in der „Woche der Bohème“, die Gäste in einigen Beisls in Wien ihre Speisen mit einer spontanen Zeichnung bezahlen. Der Künstler hatte sich mit einem Flyer an die Beisl-Wirte gewandt und zu dieser Aktion aufgerufen. „Media Thule“, ein Projekt, das im Rahmen von „Skulpturlandskap Nordland“ an einem einsamen Ort am Meer in Norwegen realisiert wurde, besteht aus einem Holzhaus mit Aussichtsfenstern und bereitgestellten Zeichenutensilien. Spaziergänger und Naturfreunde können sich in dem klassischen Genre der landschaftsinspirierten Zeichnung versuchen oder Texte hinterlassen, die vor Ort archiviert werden. Instand gehalten wird dieses Projekt seit 1994 von Anwohnern des nächstgelegenen Dorfes, die das Zeichenmaterial auffüllen, die Papiere aufhängen und abheften und den Raum beheizen. Diese Form der Kooperation, in der der Künstler eine Situation oder einen Raum initiiert und in diesem Rahmen den einzelnen Besucher auffordert, eine künstlerische Produktion zu hinterlassen – im Fall von „Media Thule“, sich mit einer Zeichnung oder einem Text in ein Verhältnis zwischen Natur und Kultur zu verorten – ist für diese Projekte charakteristisch .
In neueren Arbeiten hingegen tritt eher die persönliche Geschichte, die Identität und Biografie von Personen, die an dem künstlerischen Prozess partizipieren, in den Vordergrund. Die Zusammenarbeit beschränkt sich häufig auf Interviews, wobei ihn vor allem migrantische Identitätsfragen interessieren. Für „Träumen in Hannover“, 2002, sprach er mit einem irakischen Kurden, einem Senegalesen und einer Philippinin über die individuelle Geschichte ihrer Migration und ihr Leben in Hannover. Und für die Arbeit „Goldener Bambus“ erzählt ein Vietnamese, der zu DDR-Zeiten nach Leipzig gekommen war und ein Restaurant eröffnete, die Geschichte seiner Familie, erzählt von der Wende und seinem Verhältnis zu den Deutschen.Und in Cuxhaven schließlich spricht Gislason mit Personen, die in der Fischindustrie beschäftigt sind und über ihre Sichtweise der Situation der Fischerei erzählen.
Die Texte der Interviews werden jeweils unterschiedlich räumlich präsentiert: in „Träumen in Hannover“ als Wandtexte in einem lebensgroßen Raummodell, das in seiner Einteilung, Farbgebung und Ausstattung eine Vorstellung der drei Personen repräsentiert; in der Arbeit „Goldener Bambus“ ebenfalls als Wandtext, der den Blick auf eine Raumnische freigibt, in der sich die Palme und das Video ihres Transports vom Restaurant in den Ausstellungsraum befinden; und in Cuxhaven schließlich als ein von einem Schauspieler gelesenes Hörstück, das von dem Bühnenhäuschen aus in den Nordseekai hineinklingt.
Diese Form der Partizipation, die nicht zugleich auch eine Interaktion ist, unterscheidet Gislasons Arbeit von „Community Art“-Projekten, in denen meist mit sozial benachteiligten Gruppen interaktiv und mit gesellschaftlichem Nutzwert gearbeitet wird, und welche Mitte der 90er Jahre von Susan Lacy mit dem Begriff „New Genre Public Art“ belegt wurden. Auch im Unterschied zu den von Nicolas Bourriaud als „relational aesthetics“ bezeichneten Kunstformen, die eine Interaktion des Kunstpublikums evozieren, werden bei Gislason die partizipierenden Personen nicht zusammengeführt. Sie können sich als Co-Produzenten der Arbeit verstehen, in dem Sinne, dass sie entweder in einem Interview mit Gislason in Kontakt treten oder , wie in früheren Arbeiten, Produktionsmaterial vorfinden beziehungsweise aufgefordert werden, eine künstlerische Arbeit wie eine Spur an einem Ort zu hinterlassen.
Deswegen trifft auch bezüglich der Partizipation in Gislasons Arbeit der Vergleich des Künstlers mit dem Sozialarbeiter nicht zu – ein Topos, der in den 90er Jahren an viele Künstler herangetragen wurde, die mit marginalisierten Gruppen zusammengearbeitet haben. Ausgangspunkt seiner Arbeit ist immer der künstlerische Prozess, die Auseinandersetzung mit klassischen Medien und Kunstformen sowie eine deutliche Verbindung zum Kunstfeld, die in einer Verankerung im Ausstellungsbetrieb liegt.
NARRATION
Seiner von einem psychologischen Interesse getragenen Art von Zusammenarbeit kommt man eher mit einem Blick auf den Umgang mit Narration näher. In der Arbeit „Strukturwandel“ wird weniger die historische Situation analysiert, die Interviewten äußern vielmehr ihre Einschätzung der gegenwärtigen Situation und die Aussichten auf die Zukunft der Fischerei in Cuxhaven. Gislason suchte Orte und Personen auf, die mit der Fischerei zu tun haben. Er recherchierte nicht in Bibliotheken und Archiven, sondern sammelte die persönlichen Geschichten, die ihm erzählt wurden und die er zwar editiert aber nicht kommentiert, oder durch gezielte Fragen beeinflusst. Man erfährt über Probleme der Überfischung, darüber, dass staatlich geförderte holländische Großhändler den Markt bestimmen, die Computerisierung des Fischfangs durch GPS-Systeme, die familiäre Anspannung, die ein 14-Stunden Tag auf See mit anschließender Vermarktung der Ware mit sich bringt, und darüber, dass die Deutsche Fischfang Union in isländischen Händen ist.
Die Erfahrungsberichte der interviewten Personen, die Erzählungen ihrer Sichtweise der spezifischen lokalen Situation der Fischerei in Cuxhaven erzeugen einen narrativen Raum, der sich über die Bestimmungen des Orts legt und lassen sich damit als eine ortsbezogene Praxis erkennen. Unsere Erfahrung und Sichtweise des Orts Cuxhaven wird beeinflusst durch das Wissen und die Erlebnisberichte der interviewten Personen. Michel de Certeau argumentiert, dass Erzählungen Orte definieren und regulieren : „Jeden Tag durchqueren und organisieren [Geschichten] die Orte; sie wählen bestimmte Orte aus und verbinden sie miteinander; sie machen aus ihnen Sätze und Wegstrecken. Sie sind Durchquerungen des Raumes.“Durch Geschichten formt sich damit unsere Kartographie eines Raumes. Deshalb ist „jeder Bericht ein Reisebericht – ein Umgang mit dem Raum.“
Neben den unmittelbaren, nach dem Verfahren und der Erkenntnisstruktur der „oral history“ zusammengestellten, persönlichen Erzählungen bilden auch die Konstellationen der physischen Elemente der Arbeiten zueinander einen narrativen Zusammenhang. Gislason übersetzt mithilfe von Displays und Metaphern Erzählstrukturen in den Raum.
DISPLAYS, RÄUME UND METAPHERN
Gislason arbeitet häufig mit metaphorisch aufgeladenen Räumen. Da ist zunächst die Bühne, die, vergleichbar mit de Certeaus Definition der Aufgabe der Erzählung, eine Plattform für Handlungen bildet: „Das ist die erste Aufgabe der Erzählung. Sie eröffnet ein Theater zur Legitimierung tatsächlicher Handlungen. Sie schafft einen Bereich, der gewagte und zufällige gesellschaftliche Praktiken autorisiert .“Das hier erwähnte Verhältnis von der Metapher im Bühnenspiel zur Realität zeigt sich in der Parallele der extrem gelenkigen Performance der Akrobatin zu den in den Interviews anklingenden Bemühungen oder Verrenkungen, die unternommen werden müssten, um die wirtschaftliche Situation Cuxhavens zu retten.
Das Haus ist nicht begehbar und lässt von außen durch Fenster die Akrobatin beobachten. De Certeau schreibt über das Haus (mit Bezug auf Bourdieus Ausführungen zum kabylischen Haus): „Durch die Praktiken, die seinen Innenraum gliedern, kehrt es die Strategien des öffentlichen Raumes um und organisiert insgeheim die Sprache.“Auch wenn die Tanzperformance in dem Hafenhäuschen nicht den üblichen Nutzungen eines Hauses entsprechen, die de Certeau meint, so kann man dennoch von einer „Umkehrung der öffentlichen Ordnung“ sprechen, wie es im folgenden heißt, sowie von der „Erzeugung eines Diskurses.“
Ein weiteres wiederkehrendes Motiv in Gislasons Arbeit ist die dokumentierte Reise eines narrativ aufgeladenen Gegenstandes, wie die Reise der Seemannsfigur in den Cuxhavener Kunstverein oder die Reise der Palme des vietnamesischen Restaurants in den Ausstellungsraum. Diese temporäre Kontextverschiebung wirkt wie ein Brechtscher Verfremdungs-Effekt: der Seemann, wie auch die Palme, fallen erst als von einem Ort erzählende kulturelle Signifikanten auf, wenn sie dem gewohnten Zusammenhang entnommen werden und im Rahmen der Kunstinstitution beziehungsweise der Installation rekontextualisiert werden. Ob Akrobatin, Reise, Haus oder Bühne: hier spiegelt sich das Interesse, ein Motiv oder eine Metapher für ein gesellschaftliches Phänomen zu finden. Kunst operiert bei Gislason auf einer symbolischen (oder weitergedacht auch: symbolpolitischen) Ebene, die einen narrativen, auf den Ort bezogenen Raum produziert.
Videodokumentation (Länge 18:07 Min) einer Performance von Gustav Kluge und Kathrin Haaßengier in der Galerie Frisch, Berlin am 30. April 2010 anlässlich einer Ausstellung von Gustav Kluge.
»Ein Telefonat eröffnet am 30. April 2010 gegen 19.30 Uhr die Ausstellung von Gustav Kluge und Kathrin Haaßengier bei FRISCH in der Halle am Wasser hinter dem Hamburger Bahnhof. Der Einlass beginnt ab 18 Uhr. Gesprächspartnerin am Telefon ist die Hamburger Transsexuelle Christine W.. Danach geht die Handlung der „Zeremonie für ein Double“ über in die Bergung Siamesischer Zwillinge aus dem Berlin-Spandauer-Schifffahrtskanal sowie ihrer Operation.
„Das Leben von Christine W. ist eine Extrembiografie“, so Gustav Kluge, neun Jahre hat er mit dem Aktmodell zusammen gearbeitet. „Aus der Sicht des Malers besitzt sie einen archetypischen androgynen Körper. Diesen hat sie nach ihrem Ideal umgeformt. Das führte zu einem Leidensweg, der sie in der neuen Welt nicht ankommen ließ. So reagiert sie auf viele und vieles mit Aggression.“ Im September 2009 wurde Christine W. wegen Körperverletzung zu drei Jahren Haft und Unterbringung in der Psychiatrie verurteilt. Gustav Kluge hat diese Selbstschöpfung und Aggression der Christine W. in fünf der sechs in der Ausstellung befindlichen szenischen Bilder ausgelotet und umgesetzt.
Der Operationssaal, von Kathrin Haaßengier entworfen, zwingt die Zeremonie in eine klaustrophobische Enge. Nur ein Kabel transportiert Videobilder nach außen. Solche Lebensadern wiederholen sich in den drei weiteren kinetisch-akustischen Skulpturen der Bildhauerin. Sie bestehen aus blickdichten Körpern, gläsernen Milchabscheidern und verworrenen miteinander verschlungenen Schläuchen. Strömende Flüssigkeiten transportieren ihren Rhythmus.«